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Hera Lind

Hera Lind

Titel: Hera Lind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Männer sind wie Schuhe
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wir haben sie getröstet, nicht wahr, Mama?«
    Ja. Mit ihren süßen Patschhändchen. Doch daraufhin hatte ich noch mehr geweint.
    »Die Mama hat die Scheibenwischer auf volle Pulle gedreht, aber für ihre Brille hatte sie keine«, bemerkte Paul sachverständig. »Fast wäre sie gegen einen Baum gefahren.«
    Jürgen drehte sich im Zeitlupentempo zu mir um. Er schloss für einen Moment die Augen, als würde er über eine ganz knifflige Geldanlage oder Kreditanleihe nachdenken. »Da bin ich aber froh, dass ihr heil nach Hause gekommen seid.«
    »Ja, den Weg zu Sophie und zurück hätte ich auch blind gefunden«, sagte ich traurig. Ich sah den bedauernden Ausdruck in Jürgens Augen.
    »Und jetzt? Trefft ihr euch nicht mehr?«
    Er litt mit mir. Er wusste, wie viel Sophie mir bedeutete. Ach, Sophie!, dachte ich. Wohin sollte ich mich von nun an wenden, wenn ich wieder etwas auf dem Herzen hatte? Wenn ich Luft ablassen, Trost suchen oder einfach nur albern sein wollte? In etwa konnte ich sogar nachvollziehen, welche Angst Jürgen gehabt hatte, MICH zu verlieren. Deshalb hatte er so kopflos gehandelt und Christians Frau angerufen. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Auf einmal verstand ich ihn, und mir ging auf, wie sehr ich ihn in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Die vielen Proben, die Elternabende … Und wenn ich bei Sophie war, vergaß ich oft die Zeit und kam erst spät nach Hause. Wo sollte mein armer Jürgen Dampf ablassen? Bei seinen alten Eltern bestimmt nicht! Sein Mitleid rührte mich, die Art, wie er mich ansah und nicht die rechten Worte fand, mich wegen meiner Freundin zu trösten.
    »Wir werden sehen. Auf jeden Fall werde ich mir im neuen Jahr mehr Zeit für uns nehmen!«, sagte ich fest entschlossen. »Komm, lass uns reingehen, mir frieren schon die Füße ab.«
    Alles würde gut werden.
    Am Neujahrsmorgen ging um sechs Uhr früh mein Handy. Ich hörte vom Bett aus, wie es in meinem Arbeitszimmer »Halleluja« sang, und blieb in Schockstarre liegen, bis es damit aufhörte. Wer konnte das gewesen sein? Vorsichtig drehte ich mich zu Jürgen um, der friedlich in seiner Betthälfte weiterschnarchte. Mein Herz pochte. Wer am Neujahrsmorgen um so eine Zeit anrief, musste mich wirklich dringend sprechen wollen. Sophie!, ging es mir durch den Kopf. Sie konnte nicht schlafen und wollte sich bei mir entschuldigen. Hm. Das war eine Möglichkeit. Die andere war … Nein. Ausgeschlossen. Und wenn doch? Plötzlich war ich hellwach. Mit Blick auf den schlafenden Jürgen schlüpfte ich lautlos in meine Pantoffeln und schlich die Treppe hinunter, tunlichst darum bemüht, mit keiner Stufe zu knarren. Im Arbeitszimmer hing das Handy an seinem Ladegerät. Ein Anruf in Abwesenheit. Ich tastete nach meiner Brille und starrte auf das Display. Unbekannte Nummer. Sophie war es also nicht.
    Um elf hatten wir gerade das Frühstücksgeschirr abgeräumt, als Jürgen schon wieder über seinen Laptop gebeugt am Esstisch saß. Vorsichtig tastete ich nach der Fernbedienung. Man wird ja in seinem eigenen Haus noch fernsehen dürfen! Entschlossen schaltete ich ins ORF. Da, die Wiener Philharmoniker! Da saßen die hundert Pinguine in ihren Fräcken und spielten. Um die Aufmerksamkeit der anderen nicht auf mich zu ziehen, ließ ich den Ton aus. Ich wollte nur einen winzigen Blick auf Christian erhaschen. Gebannt starrte ich auf die Mattscheibe.
    »Mach doch den Ton an, Kind, du verstehst ja gar nichts!«, rief meine Mutter aus der Küche, bevor sie mit dem halb tauben Lenchen wieder über Marmeladenrezepte aus ihrer Kindheit sprach.
    »Och nein, nicht nötig«, rief ich so harmlos wie möglich über die Schulter.
    Jetzt sah man die Bläsergruppe in Groß. Mein Herz fing an zu hämmern. Automatisch zupfte ich mir ein paar widerspenstige Haarsträhnen zurecht, bis mir einfiel, dass zwar ich Christian sehen konnte, aber nicht umgekehrt!
    »Lotta, setz dich doch, du stehst im Bild!«, sagte Jürgen, der anscheinend in zwei Bildschirme gleichzeitig schauen wollte.
    »Nicht nötig, es läuft sowieso nichts Interessantes«, murmelte ich rasch.
    Da kamen schon die Holzbläser! Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Mein Herz klopfte so laut, dass es das Klicken von Jürgens Computertastatur übertönte. Und ganz plötzlich war Christian groß im Bild. Die Kamera nahm seine Hände ins Visier, und ich bekam eine wohlige Gänsehaut, als ich die langen, schlanken, über der Flöte tanzenden Finger sah. So wie vor einer Woche bei uns in der Musikschule

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