Herbst - Beginn
beklagenswerte Kreatur sich wieder auf die Beine rappelte.
»Kann sie uns hören?«, dachte Kate laut nach, obwohl sie die Frage eigentlich gar nicht aussprechen wollte.
»Keine Ahnung«, antwortete Michael.
»Wahrscheinlich schon«, sagte Emma.
»Wie kommst du darauf?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich schließe das aus der Art, wie sie reagiert.«
Ralph, der das Geschehen bislang aus der Ecke des Saals beobachtet hatte, wurde unwillkürlich näher und näher zum Kreis der Überlebenden gezogen.
»Aber sie reagiert doch gar nicht«, stammelte er mit für ihn untypisch brüchiger und zittriger Stimme.
»Ich weiß«, pflichtete Emma ihm bei. »Genau das meine ich. Sie läuft herum, aber ich glaube nicht, dass sie weiß, weshalb oder wie sie es macht.«
»Ein Instinkt«, murmelte Carl.
»Das denke ich allmählich«, bestätigte Emma. »Wahrscheinlich kann sie uns hören, aber sie weiß nicht mehr, was die Geräusche bedeuten, die wir von uns geben. Ich wette, sie wäre körperlich in der Lage zu sprechen, nur erinnert sie sich nicht daran, wie es geht.«
»Aber sie reagiert auf Berührungen«, warf Paul Garner nervös ein.
»Nein, tut sie nicht. Sie reagiert überhaupt nicht. Sie wendet sich nur ab, wenn sie sich in eine bestimmte Richtung nicht weiterbewegen kann. Ich bin überzeugt, sie würde endlos in einer geraden Linie vor sich hin laufen, wenn ihr nichts im Weg stünde.«
»Grundgütiger, seht sie euch an«, murmelte Kate. »Seht euch das arme Ding nur an. Wie viele Millionen Menschen laufen da draußen so wie sie herum?«
»Hast du ihren Puls überprüft?«, flüsterte Michael zu Emma, die neben ihm stand.
»Irgendwie schon«, erwiderte sie mit ebenso leiser Stimme.
»Was soll das denn heißen?«, zischte Michael, verärgert über die vage Antwort.
»Ich konnte keinen finden«, gab sie unverblümt zurück.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit gar nichts sagen.«
»Und was denkst du?«
Emma sah ihn an und zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie.
»Schafft sie hier raus«, fauchte Garner nervös von seinem Beobachtungspunkt an einer Tür in sicherer Entfernung.
Michael ließ den Blick über den Kreis wandern und stellte fest, dass die anderen plötzlich entweder zu Boden starrten oder ihn ansahen. Da er spürte, dass von ihm erwartet wurde, den nächsten Schritt zu tun, trat er vor und ergriff einen Arm der unglückseligen Frau. Er zog sie behutsam aus dem Saal zurück zur Tür, die er mit der freien Hand öffnete. Dann stieß er sie hinaus in den Sonnenschein und beobachtete, wie sie vom Gebäude weg und zurück über den Parkplatz schlurfte.
10
Die isolierte und verzweifelte Lage machte allen zu schaffen, manchen mehr als anderen. Carl verbrachte den Großteil des Nachmittags mit dem (erfolglosen) Versuch, mangelnden Schlaf nachzuholen und zu vergessen, was draußen geschah. Die Zeit verstrich schier unerträglich und qualvoll langsam. Eine Stunde fühlte sich wie fünf Stunden an, fünf Stunden eher wie fünfzig. Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, kletterte er wieder auf den kleinen Dachbereich, den er am Vorabend entdeckt hatte.
Einen Augenblick fühlte die Luft sich rein und erfrischend an, und er sog mehrere tiefe, beruhigende Atemzüge ein, ehe die mittlerweile vertrauten Gerüche des Todes und brennender Gebäude sich rasch wieder einstellten, da sie ihm ein kalter, böiger Wind zutrieb. Ein plötzliches, unerwartetes Geräusch ertönte hinter ihm. Carl wirbelte herum und sah, wie Michael sich damit plagte, durch das winzige Dachfenster zu klettern.
»Hab ich dich erschreckt?«, fragte er, als er sich aufs Dach zog. »Tut mir Leid, Kumpel, das wollte ich nicht. Ich habe nach dir gesucht und gesehen, wie du hier rauf verschwunden bist, deshalb ...«
Carl schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab, enttäuscht darüber, dass seine kleine Zufluchtstätte entdeckt worden war. Im Gemeindezentrum war Privatsphäre Mangelware; jedem der Überlebenden standen nur wenige Quadratmeter zur Verfügung. So gut wie jede Bewegung, die man vollführte, konnte von jedem beobachtet werden. Carl hasste das und hatte sich darauf gefreut, einige Zeit allein auf dem Dach zu verbringen. Dieses kleine Fleckchen war der einzige Ort, an dem er sich strecken, kratzen, mit dem Fuß aufstampfen, brüllen, gegen die Wand schlagen oder weinen konnte, ohne das Gefühl zu haben, sich wegen der anderen zurückhalten zu müssen. Dabei schien es dumm,
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