Herbst - Beginn
seinen Gefährten bahnte. »Die meisten Lebensmittel da drin sind verdorben, aber ich konnte ein paar Chips, Zwieback und etwas zu trinken finden.«
Ohne etwas zu erwidern, entfernte Emma sich von den beiden Männern und ging auf eine breite Glastür am Ende des Raums zu. Sie drückte die Tür auf und kehrte zurück hinaus ins Freie.
»Wo will sie denn hin?«, murmelte Carl.
Emma befand sich noch nicht außer Hörweite.
»Dort drin esse ich nicht«, rief sie zurück ins Gebäude. »Ihr beide könnt ja, wenn ihr wollt.«
Michael betrachtete kurz die schauerliche Umgebung, dann folgte er ihr bedrückt zurück hinaus zu einem Rasenbereich jenseits des Parkplatzes. Auch Carl schloss sich ihnen an, wenngleich etwas langsamer, weil er das Essen trug und Mühe hatte, über den Tablettrand zu erkennen, wohin er die Füße setzte. Auf dem Weg nach draußen erregten zwei Leichen seine Aufmerksamkeit, die an einem Fenstertisch saßen. Eine Frau und ein Mann, beide offenbar etwa in seinem Alter, hatten nebeneinander gesessen, als der Virus zuschlug. Vor ihnen lag eine Touristenkarte auf dem Tisch ausgebreitet, befleckt mit dunklem, geronnenem Blut. Auf dem Boden befand sich zwischen den Füßen seiner Eltern und den Tischbeinen der gekrümmte Leichnam eines kleinen Jungen. Plötzlich konnte Carl nur noch die verzweifelten Gesichter seiner Frau und seines Kindes sehen, und die plötzliche Erinnerung an alles, was er verloren hatte, war beinah zu viel für ihn. Mit über die Wangen kullernden Tränen setzte er den Weg zu den anderen fort und hoffte, der böige Wind würde sein Gesicht trocknen, bevor er bei ihnen einträfe.
Michael und Emma hatten sich nebeneinander an einem großen Picknicktisch aus Holz niedergelassen. Carl nahm ihnen gegenüber Platz.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Michael.
»Will jemand eine Dose Cola?«, sagte Carl und ignorierte die Frage bewusst. »Drinnen gibt es noch andere Dosen, falls ihr Cola nicht mögt. Ich glaube, ich habe auch ein paar Wasserflaschen gesehen ...«
»Ist alles in Ordnung?«, wiederholte Michael.
Diesmal schwieg Carl. Er nickte nur, biss sich auf die Unterlippe und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Dann begann er, die Lebensmittelverpackungen zu öffnen, die er mitgebracht hatte.
»Du siehst müde aus«, meinte Emma mit sanfter Stimme, streckte die Hand aus und drückte kurz und tröstend Carls Finger. »Vielleicht sollten wir hier übernachten. Mir ist schon klar, dass es kein idealer Ort ist, aber ...«
Ihre unerwartete Berührung löste eine Veränderung in Carl aus. Plötzlich und ohne Vorwarnung bröckelte seine Schutzmauer.
»Hatte jemand von euch beiden Kinder?«, fragte er mit brüchiger, zittriger Stimme. Michael und Emma sahen einander kurz an, dann schüttelten sie die Köpfe. »Ich schon. Eine Tochter. Das süßeste kleine Mädchen, das man sich vorstellen kann. Sie hat ... Ich meine, sie hatte ...«
»Es schmerzt entsetzlich, nicht wahr?«, sagte Emma, die Carls Qualen spürte und mit ihm fühlte, wenngleich sie seine offenkundige Pein nicht gänzlich nachempfinden konnte. »Meine Schwester hatte zwei Söhne. Prima Jungs, ich habe sie erst vor ein paar Wochen zuletzt gesehen, und jetzt –«
»Herrgott«, fuhr Carl fort, der kein einziges Wort von Emma gehört zu haben schien, »Kinder verändern einen. Als wir erfahren haben, dass Gemma unterwegs war ... Anfangs war es ein schlimmer Schock. Ich meine, wir waren echt am Boden zerstört. Sarah hat tagelang nicht mit mir geredet, und ... und ...«
»Und was?«, fragte Michael behutsam nach.
»Und dann wurde sie geboren, und alles hat sich verändert. Ich sag dir, Kumpel, das kann man nicht verstehen, wenn man es nicht selbst erfahren hat. Ich hab mit angesehen, wie mein kleines Mädchen auf die Welt kam, und da war‘s um mich geschehen. Bevor man das erlebt, hat mein eigentlich keine Ahnung, worum es im Leben geht. Und jetzt ist sie weg ... Verdammte Scheiße, ich will es einfach nicht wahrhaben. Ich fühle mich so beschissen leer und will nur nach Hause, um sie zu sehen. Ich weiß, dass sie von mir gegangen ist, trotzdem will ich sie sehen und sie einfach ...«
»Psst ...«, flüsterte Emma. Verzweifelt versuchte sie, sich etwas einfallen zu lassen, was sie sagen konnte, begnügte sich jedoch stattdessen mit Schweigen. Zwar konnte sie das volle Ausmaß von Carls Schmerz nicht nachempfinden, dennoch war ihr klar, dass nichts, was sie sagen oder tun konnte, ihn zu trösten
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