Herbstbringer (German Edition)
was es mit diesem Haus auf sich hat, meinst du nicht auch, Willie?«
»Mhm«, brummte dieser. »Ich hätte aber zunächst gern etwas zu trinken. Außerdem wollen wir doch nicht länger als nötig in diesem Keller herumstehen, nicht wahr?«
Dem konnte Emily uneingeschränkt zustimmen. Dieser Keller deprimierte sie.
Das übrige Haus war zwar nicht viel besser, aber immerhin etwas wohnlicher. Wenn man es als wohnlich bezeichnen wollte, dass es seine besten Jahre wohl schon vor fünfzig Jahren glanzlos hinter sich gelassen hatte. Ohne Ausnahme waren alle Türen und Fenster sehr gewissenhaft mit Brettern vernagelt worden, in den Räumen, in denen sich die Tapete nicht von den Wänden schälte, kroch Schimmel frei umher. Nach einem überfüllten und stickigen Pub, der geruchsintensiven und allzu lebendigen Londoner Unterwelt und einem Keller wie aus einem Horrorfilm gab sich Emily aber gerne damit zufrieden – zumal der Architekt entweder wahnsinnig oder genial gewesen sein musste.
Mehr als ein Gang stieg hinter einer Biegung stark an oder verjüngte sich zu einem schmalen Spalt, hinter Türen verbargen sich verputzte Wände oder weitere Türen. Es gab seltsame Tapetenmuster, geometrisch unsinnige Fensteröffnungen und Schlüssellöcher ohne Türen. Und so desolat der Zustand des Hauses auch sein mochte, übte die Schönheit des Verfalls doch eine gewisse Faszination auf Emily aus, als sie das mehrstöckige Gebäude erkundete.
Das Wohnzimmer wirkte in seinem gepflegten Zustand dagegen beinahe ernüchternd altmodisch. Unter einer feinen Staubschicht fristeten dunkle Ölgemälde an der Wand und auf dem Boden ihr Dasein, ein alter Kamin war mit zerfledderten Büchern vollgestopft, Vorhänge verbargen die krumm und schief angebrachten Bretter, die bei Emily den Eindruck erweckten, in großer Eile an die Fenster genagelt worden zu sein.
Erst auf den zweiten Blick stellte sie fest, dass die altmodische Sitzgarnitur nicht leer war. Unter einer schwach glimmenden Stehlampe saß irgendjemand oder irgendetwas, den Evening Standard wie ein Schild vor sich emporgereckt.
»Oh, hallo …«, stotterte Emily unbeholfen. Von wegen Selbstbewusstsein. »Ich hätte dich fast übersehen.«
Die Zeitung raschelte anklagend. Mehr gab der Unbekannte nicht von sich.
»Ah, wie ich sehe, haben Sie schon Bekanntschaft mit Ambrose gemacht«, bemerkte Willie, der gerade hereinkam, in jeder Hand eine dampfende Tasse. An Durst schien es Untoten nicht zu mangeln. »Wenn er seine Zeitung liest, könnte um ihn herum die Welt untergehen, und er würde es nicht merken. Ich weiß, wovon ich spreche: Einmal war es beinahe so weit, doch Ambrose zog es vor, den Kulturteil weiterzulesen. Hier, für Sie.«
»Was ist das?« Misstrauisch beäugte Emily das Getränk, von dem ein zwar verlockender, aber zweifellos alkoholischer Duft ausging.
»Och, nur ein kleiner Knochenwärmer gegen die Kälte. Hausrezept sozusagen.«
Zögerlich nahm sie die Tasse entgegen und nippte an der heißen Flüssigkeit. Sie schmeckte besorgniserregend gut und war ziemlich stark. Wieder ließ sie ihren Blick durch den stillen Raum schweifen. Sehr zentral konnte das Haus nicht liegen. Keinerlei Geräusche drangen von draußen herein. »Also, wo sind wir hier?«
»Setzen wir uns, dann erzähle ich es Ihnen.«
Als sie Platz genommen hatten, stellte Emily verwundert fest, dass Ambrose in eine Zeitung aus dem Jahr 1978 versunken war, als wäre sie ein hochspannender Krimi.
»Dieses Haus«, begann Willie, nachdem Rufus sich zu ihnen gesellt hatte und ebenfalls an einer dampfenden Tasse nippte, »gehört eigentlich Ambrose.«
»Aber das war nicht immer so, nicht wahr, Willie?«
»Oh nein, mitnichten. Werte Dame, sagt Ihnen der Name Sean Manchester etwas?«
Emily dachte einen Augenblick nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, nicht, dass ich wüsste.«
»Aber die Geschichte des Highgate -Vampirs ist Ihnen doch gewiss geläufig?«
Sie schüttelte den Kopf.
Die Zeitung raschelte nervös, dann kam dahinter ein dunkelhaariger Kopf zum Vorschein. Monokel, sorgsam getrimmter Oberlippen- und Kinnbart, schnittiger Dandy-Seitenscheitel – in Sachen altmodisches Erscheinungsbild übertraf Ambrose die beiden Schauspieler um Längen. »Du kennst die Geschichte des Highgate -Vampirs nicht«, rügte er sie in strengem Tonfall. Es war keine Frage. »Dann kennst du meine Geschichte nicht!«
Willie und Rufus warfen sich befriedigte Blicke zu. Emily begriff, dass sie es die ganze Zeit
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