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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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darauf angelegt hatten, Ambrose aus der Reserve zu locken. Beide lehnten sich genüsslich zurück.
    Ambrose faltete die Zeitung sorgsam zusammen, nahm sein Monokel ab, machte seine Pfeife an, warf ihr einen weiteren strengen Blick zu und stand schließlich auf. »Meine Geschichte«, begann er in gewichtigem Tonfall und legte den Tonabnehmer eines alten Grammofons behutsam auf eine Platte, »beginnt in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Es war eine gute Zeit für Musik, Aktivismus und Rauschmittel, aber eine denkbar schlechte Zeit für Vampire.«
    Es kratzte und knisterte aus dem alten Gerät. Klassische Musik setzte ein, dann erzählte Ambrose weiter. Gebannt lauschte Emily. Schnell stellte sie fest, dass auch er keinen Herzschlag hatte.
    Ambrose erzählte ihr, wie er in den Kriegsjahren des letzten Jahrhunderts durch einen unglücklichen Zusammenstoß in einem französischen Schützengraben zu einem Untoten geworden war, der es mit Müh und Not zurück nach London geschafft hatte, um dort die nächsten Jahre größtenteils damit zuzubringen, die Ungerechtigkeit seiner Situation zu beklagen und sich von Ratten, Tauben und Würmern zu ernähren. Lapidar erzählte er, dass er es damals noch nicht fertiggebracht hatte, Menschenblut zu trinken, weshalb er auf tierische Alternativen zurückgegriffen hatte. Emily versuchte nicht darüber nachzudenken, was das für seine heutigen Ernährungsgewohnheiten zu bedeuten hatte.
    Irgendwann in den Sechzigern, erzählte er, war er nach Highgate gekommen, um in den abgelegenen Teilen des Friedhofs in Ruhe vor sich hin zu vegetieren. Längst hatte er die Bekanntschaft anderer Untoter gemacht. Diese waren ihm allerdings zu rüpelhaft und bestialisch, weshalb er ihnen rasch den Rücken gekehrt hatte. Er hatte es vorgezogen, seine Tage allein zu verbringen, bis er am Weihnachtsabend 1969 von einem Menschen entdeckt worden war.
    »Dieser verdammte David Farrant hat alles vermasselt«, schimpfte Ambrose. »Zunächst blieb alles ruhig. Ich dachte schon, er hätte seinen eigenen Augen nicht getraut, bis der Zirkus losging. Seit dem Frühling des verfluchten Jahres 1970 hatte ich kaum eine ruhige Nacht mehr in Highgate .« Er redete sich mehr und mehr in Rage. »Gaffer, Reporter, Fernsehkameras, Hobbysatanisten – der Friedhof war der reinste Rummelplatz! Und alles nur wegen dieses dämlichen Farrant, der mit seiner Entdeckung ja unbedingt an die Öffentlichkeit gehen musste. Ich hätte ihn in dieser Nacht einfach töten sollen, dann wäre mir viel erspart geblieben.«
    Er schnaufte schwer und hielt inne. Gedankenverloren zog er an seiner Pfeife.
    Rufus beugte sich vor. »Aber das hast du nicht, nicht wahr, Ambrose?«
    »Nein. Farrant schien irgendwann einzusehen, dass er durch seine unvorsichtigen Aussagen einen Medienrummel heraufbeschworen hatte, den er selbst nicht länger kontrollieren konnte. Hier kommt Sean Manchester ins Spiel. An einem Freitag, den 13., ich glaube, es war im März 1970, rief Manchester zu einer Vampirjagd auf, an der sich Dutzende beschränkte Bürger beteiligten. Natürlich blieb diese Hetzjagd, wie man sie zuletzt wohl zu Zeiten der Inquisition erlebt hat, erfolglos. Manchester und ein paar seiner dummdreisten Gefolgsleute gaben sich allerdings nicht zufrieden und verschafften sich eines Nachts Zutritt zu der Gruft, in der ich zu ruhen pflegte. Manchester ließ ich entkommen. An seinem Gefolge jedoch statuierte ich ein Exempel. Ich bestrafte sie für ihre Neugier und ihren Versuch, mich zu vernichten. Oh ja, die Polizei tat gut daran, das alles zu vertuschen. Es hätte durchaus eine Massenpanik auslösen können. Tagelang waren sie damit beschäftigt, das Blut von den Wänden zu waschen.«
    »Geschah ihnen ganz recht«, kommentierte Willie. »Eine Schande, dass wir uns erst wenig später kennengelernt haben.« Er wandte sich an Emily. »Genau genommen sind wir erst durch diesen Vorfall auf Ambrose aufmerksam geworden. Wir waren sofort beeindruckt von ihm und ließen Elias eine Botschaft zukommen. Sie müssen wissen, Elias ist oft unterwegs und lässt sich nur selten in London blicken. Geschäfte, Sie verstehen? Als er Wind davon bekam, wollte er ihn bald darauf für seine Mission gewinnen. Seither ist er ein Verlorener Junge, genau wie wir. Doch erzähl weiter, mein alter Freund. Davongekommen ist Sean Manchester aber dennoch nicht, habe ich recht?«
    »Das wäre ja auch noch schöner gewesen«, entgegnete Ambrose und nahm den Faden wieder auf.

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