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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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»Ich habe ihn heimgesucht. Das mag vielleicht etwas kitschig klingen, aber ich habe ihn nach allen Regeln der Kunst in den Wahnsinn getrieben. Habe ihm aufgelauert, bin vor seinem Fenster aufgetaucht, habe mir Zutritt zu seinem Haus – diesem Haus – verschafft. Irgendwann ist er übergeschnappt und hat mir in einem Moment geistiger Umnachtung dieses Haus vermacht. Alle denken, er hätte dieses Haus nur aufgegeben, weil es ihn aufs Land gezogen hat. Man stelle sich aber nur mal diese Überschrift vor: ›Vampirjäger vermacht Haus einem Untoten!‹ Welche Ironie.« Rufus und Willie kicherten pflichtbewusst. »In den Folgejahren hat er jede Menge Theorien über mich in Umlauf gebracht, die natürlich größtenteils wahr waren. Geglaubt hat ihm aber kaum jemand. Ach, ich liebe die Menschen und ihr aufgeklärtes Denken. Eine graue Figur, die zwischen den Gräbern schwebt? Tote Eichhörnchen als Beweis für die Existenz von Vampiren?« Er lachte leise. »Natürlich alles grober Unfug, nicht wahr? In den kommenden Jahren achtete ich dennoch darauf, nicht zu sehr aufzufallen, weil das Medieninteresse noch immer groß war.« Er nahm die alte Zeitung zur Hand und deutete auf einen großen Artikel unter der reißerischen Überschrift ›Blutsauger in Highgate ‹. »Meine fünf Minuten Ruhm«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Ich zog mich also in dieses Haus zurück und stellte irgendwann eher zufällig fest, dass einer der endlosen Irrwege des Londoner Untergrunds nahe an meinem Keller vorbeiführte. Seither kann ich mich unterirdisch völlig frei bewegen und sogar meine alte Gruft in Highgate aufsuchen, wann es mir beliebt. Man glaubt es kaum, aber hin und wieder platzieren einige Witzbolde immer noch Knoblauch zwischen den Särgen.«
    »Diese Tunnel, sie führen also wirklich überallhin?«, fragte Emily neugierig.
    »Zweifellos«, erwiderte er, ohne sie anzusehen. Höflichkeit schien nicht zu seinen Stärken zu gehören. »Unter unseren Füßen liegt ein vergessenes Totenreich, das bis in römische Zeiten zurückreicht. Es geht hinab, sehr tief hinab in lichtlose Welten, die sich kein Städtebauer vorstellen kann. Gräber, ganze Städte voller Gräber.«
    Mit diesen Worten setzte er sich und verschwand wieder hinter seiner Zeitung.
    »Und bewohnt ist die Unterwelt auch, Miss«, schaltete sich Rufus an Ambroses Stelle ein. »Wir selbst haben Jahrzehnte in Londons Untiefen zugebracht, haben Tisch und Bett mit dem Unrat der Welt geteilt. Wenn man das so sagen kann, denn wir schlafen ja nicht und essen nicht gerade von Tischen.«
    »Äh, ja, was das angeht, hätte ich auch noch eine Frage. Von was ernährt ihr euch?«
    Willie sah sie verwundert an. »Von Blut natürlich.«
    »Und wie macht ihr … also, ich meine, müsst ihr dafür … oder«, stammelte Emily und spürte, wie ihr das Thema das Blut ins Gesicht trieb.
    Willie zuckte lapidar mit den Schultern. »Nun, wir sind gewiss keine Heiligen, vermeiden es aber so oft es geht, Mensch oder Tier zu töten. Meistens reichen kleinere Mengen, zum Beispiel aus rohem Fleisch. Hin und wieder stehlen wir eine Blutkonserve oder bedienen uns bei einem schlafenden Obdachlosen. Nur zwei, drei tiefe Schlucke, versteht sich. Macht einfach viel weniger Ärger.«
    »Stolz sind wir natürlich nicht darauf«, ergänzte Rufus, als er Emilys große Augen sah. »Doch was bleibt uns anderes übrig? Haben es uns ja nicht ausgesucht. Aber sehen Sie: Wären wir erst Vampire, müssten wir uns darüber keine Sorgen mehr machen.«
    »Weil wir kein Blut trinken?«
    »Sagen wir es so«, meldete sich Ambrose wieder zu Wort und blickte sie über den Rand der vergilbten Zeitung hinweg an. »Weil Vampire nicht qualvoll sterben, wenn sie kein Blut zu sich nehmen.«
    Ein entschlossenes Rascheln erklang, dann war er wieder verschwunden.
    »Aha«, machte Emily. »Wie es aussieht, habe ich noch viel zu lernen.«
    »Ach, das gibt sich.« Willie tätschelte beruhigend ihre Schulter. Dann zog er seine Hand beschämt zurück und nestelte konzentriert an seinen Westenknöpfen herum.
    Rufus warf einen kritischen Blick auf Emilys beinahe vollen Becher, stand schulterzuckend auf und kehrte wenig später mit gefüllten Tassen für sich und Willie zurück. »Wenn Ihnen selbst diese Geschichte unbekannt war, wird uns der Gesprächsstoff gewiss nicht ausgehen«, stellte er fest.
    Sie seufzte. »Das kommt wohl davon, wenn man mehr als hundertachtzig Jahre unter der Erde gelegen hat.«

    Erregtes Gemurmel drang aus dem

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