Herbstbringer (German Edition)
vergessen. Einen Moment lang sah es aus, als würden die beiden desertieren und die Beine in die Hand nehmen. Wie zwei in die Enge getriebene Ratten sahen sie sich verzweifelt nach einem Ausweg um, bis ihr Blick auf Elias’ verhärtete Züge fiel. »Wir haben eine Abmachung«, sagte er gefährlich ruhig. Mehr brauchte es nicht, um jegliche Fluchtversuche der beiden erschlaffen zu lassen. Emily hörte, wie sie schluckten.
Vor ihnen schwoll die Geigenmelodie an. Jetzt, da sie wusste, was sie verursachte, konnte sie nichts Schönes mehr in diesen klagenden Tönen entdecken. Das Stück, das zu Ehren ihrer Geburt komponiert worden war, klang wie ihr eigener Totenmarsch.
»Es sind mindestens zwei«, zischelte Rufus mit starrem Blick. »An denen kommen wir niemals unbeschadet vorbei.«
Zu Emilys Entsetzen legte sich ein grausames Lächeln auf Elias’ Lippen. »Zumindest nicht alle.«
Emily wurde es sofort klar: Er würde auch Rufus und Willie opfern. Nur deshalb waren sie mit hier unten. Elias war doch nicht anders als die anderen Vampire.
Ängstlich gingen die beiden Schauspieler voran, in einigem Abstand gefolgt von Elias und Emily. Die Töne schienen jetzt von allen Seiten zu kommen, hallten von den Wänden wider, änderten unentwegt Form und Intensität.
Als würden sie leben, dachte Emily.
Der Anblick, der sich hinter der nächsten Wegbiegung bot, war mit nichts zu vergleichen, was sie je gesehen hatte.
Umrankt von wild züngelnden Fortsätzen, die wie die Haare einer Wasserleiche durch den Tunnel wogten, hatten die beiden Sirenen vor einer breiten Brücke Aufstellung bezogen. Unter ihnen rauschte einer der vielen unterirdischen Ströme zu einem ungewissen Ziel, dahinter konnte Emily vage eine Treppe erkennen.
Ihre Gesichter waren derart abscheulich, dass das Auge sich weigerte, länger als einen Augenblick auf ihnen zu verweilen. Gnadenlos brannten sich Details wie die schnabelartige Nase, die unbarmherzigen schmalen Augen voll loderndem Hass und die grässlich entstellten, schiefen, verfaulten und dennoch messerscharfen Zähne in Emilys Netzhaut.
Und diese Krallen erst! Die Sirenen schienen ausschließlich aus Krallen, wild pulsierenden Tentakeln und Schnäbeln zu bestehen. Die Geigenmelodie wurde zu einem ohrenbetäubenden Kreischen, als die Kreaturen den Herbstbringer erblickten – oder witterten.
Gierig schossen die verschrumpelten, knotigen Tentakel in ihre Richtung. Elias war schneller. Mit einem Sprung brachte er sich und Emily zu Fall, die krallenbewehrten Fortsätze peitschten dicht über ihre Köpfe hinweg.
»Rufus, Willie, tut wie euch befohlen. Erfüllt euren Eid!«
»Das kannst du nicht tun!« Sie hätte am liebsten geschrien, ihn zur Vernunft gebracht, ihn angebrüllt. Doch im Angesicht dieser Monster brachte sie nur ein hilfloses Schluchzen heraus.
Elias blickte sie kalt an. »Das hätte ich vielleicht nicht tun müssen, wenn du dich nicht so angestellt und auf mich gehört hättest.«
Emily wich einen Schritt zurück. Von ihrer Position aus konnte sie nicht viel erkennen, sah halb hinter Elias verborgen aber mehr, als ihr lieb war. Todesmutig traten ihre beiden Freunde vor, bewegten sich Hand in Hand auf die langsam vorrückenden Sirenen zu. Wie zwei Raubvögel im Sturzflug schossen die beiden Sirenen vor, umschlangen Rufus und Willie mit ihren Tentakelarmen und hackten mit ihren gekrümmten Schnäbeln auf sie ein.
Beide starben ohne einen Laut.
»Nein!«, schrie sie, und der Widerhall ihres Schreis löste die Schockstarre. »Du Monster! Du bist nicht besser als die!«
»Verfluchter Mist«, zischte Elias. Nicht das erste Mal hatten ihre Worte keine Wirkung auf ihn. Die Wesen hatten bereits von den leblosen Körpern der Schauspieler abgelassen und ihre Köpfe ruckartig in Emilys Richtung gewandt.
Das war genug. Ruckartig wandte sie sich um und rannte in die Dunkelheit der Tunnel. Weg von diesen Bildern, weg von diesen Kreaturen, weg von Elias.
Hinter ihr erschallte wütendes Heulen. Es fühlte sich an, als habe man Eiswürfel über ihr ausgeschüttet. Sie wusste nicht, ob es von den Sirenen kam. Oder von Elias.
Sie machte erst halt, als sie sich sicher war, weit genug von Elias entfernt zu sein. Dass sie sich längst hoffnungslos in dem Labyrinth unter dieser Stadt verlaufen hatte, war ihr in diesem Moment völlig egal. Wichtig war nur, möglichst viele Tunnel und Gänge zwischen sich und ihn zu bringen. Ihn, dem sie vertraut hatte. Ihn, dem sie nach London gefolgt war.
Sie
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