Herbstbringer (German Edition)
selbst mit einer Lupe nur mühsam zu entziffern gewesen.
»Sagen wir es mal so«, begann Jake zögerlich. »Das würde zumindest erklären, weshalb niemand nach dir gesucht hat.«
Sie saßen unter der alten Eiche nahe des Schulhofs. Schon am ersten Schultag hatte sich Emily in den Baum verliebt, kam sooft es ging hierher, um unter den knorrigen Ästen zu lesen oder in das dichte Blätterdach über sich zu schauen. Auch jetzt beruhigte sie dieser Baum, nachdem der restliche Schultag quälend langsam verstrichen und Sophie deutlich auf Abstand gegangen war. An Jakes Verhalten hatte sich hingegen nicht das Geringste geändert, wie sie erleichtert feststellte.
»Vielleicht würde es das in einem unglaubwürdigen Film, ja. Ich, ein Vampir? Meinst du nicht, das hätte ich gemerkt?«
Sie wusste genug über diese Fabelwesen, um mit Sicherheit ausschließen zu können, selbst einer zu sein. Spitze Zähne? Fehlanzeige. Blutdurst? Nicht im Geringsten. Probleme mit Sonnenlicht? Sie mochte den Herbst vielleicht mehr als den Sommer, das war aber auch schon alles. Angst vor Knoblauch? Nun, wer roch schon gern danach?
»Na ja«, raunte Jake verschwörerisch. »Wer sagt denn, dass Vampire genauso sind wie in Büchern oder Filmen? Wer weiß – vielleicht schlafen sie auch einfach gern sehr lange …«
Emily musste grinsen. »Klar, ich habe hundertachtzig Jahre am Stück geschlafen.«
»Warum nicht? Du sagst doch selbst, dass du nur sehr wenig Schlaf brauchst.«
Das stimmte. Und ließ man einmal die Lächerlichkeit außer Acht, würde diese Theorie tatsächlich so manches erklären.
»Jake?«, fragte sie und wurde wieder ernst. »Das klingt jetzt vielleicht albern … aber würde es für dich einen Unterschied machen, wenn mit mir tatsächlich etwas nicht stimmt?«
Herbstlaub segelte um sie herum zu Boden. Es war wunderschön.
»Nein«, sagte er voller Entschlossenheit. »Natürlich nicht!«
Jake ging nicht zur Arbeit. Er schwebte. Ihm war es egal, dass dieses Mädchen von einem Geheimnis umgeben war. Er wäre selbst dann nicht von ihrer Seite gewichen, wenn sie eine flüchtige Verbrecherin gewesen wäre. Oder ein Vampir. Er musste allerdings zugeben, dass ihm diese Theorie selbst reichlich abstrus vorkam.
Wenn Emily gewusst hätte, dass sein Großvater ihr tatsächlich bewaffnet entgegengetreten wäre … Und dann diese Sache mit Sophie … Es war ihm nicht leichtgefallen, Emily nichts davon zu erzählen. Er hatte ihr deutlich angesehen, wie sehr sie das ablehnende Verhalten ihrer Schwester getroffen hatte.
Wieso musste alles immer so verdammt kompliziert sein?
Einen Moment lang gab er sich der Vorstellung hin, dass sein Großvater recht hatte. Dass Emily ein Vampir war.
Aber würde es einen Unterschied machen?
Er blieb stehen und beobachtete, wie ein sorgsam zusammengeharkter Haufen Herbstlaub vom Wind auseinandergetrieben wurde. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Sie hatte ihn zum Abschied auf die Wange geküsst …
Trotzig rammte er seine Hände in die Jackentaschen.
Nein, es würde nicht den geringsten Unterschied machen.
Dankbar dafür, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren, brütete Emily nochmals über dem alten Zeitungsartikel. Musste es überhaupt irgendwas zu bedeuten haben, dass sie diesem Mädchen ähnlich sah? Das war bestimmt nur ein dummer Zufall. Sie beschloss, dem Text bei der ersten Gelegenheit mit einer Lupe zu Leibe zu rücken und das Geheimnis um ihre Identität bis dahin weiter zu verdrängen.
Dass dieses Unterfangen leichter gesagt als getan war, wurde ihr spätestens klar, als sich ihre Eltern am Freitagnachmittag von ihnen verabschiedeten und den beiden Schwestern das Haus für das Wochenende überließen. Denn Sophie redete nicht mehr mit ihr, seit Jake den Mädchen den Zeitungsartikel gezeigt hatte.
»Sophie?« Emily klopfte zuerst zaghaft, dann immer lauter an die Zimmertür ihrer Schwester.
Keine Reaktion.
»Was ist denn nur los? Hab ich dir irgendwas getan?«
»Lass mich einfach in Ruhe, okay? Geh doch zu Jake, wenn du unbedingt reden willst!«
»Jake?« Emily kam ein Verdacht. »Bist du etwa … sauer, dass Jake und ich uns so gut verstehen?« Sie hatte sich nicht getraut, das Wort eifersüchtig zu benutzen.
Stille folgte ihrer Frage, und sie befürchtete bereits, dass der kurzzeitig angeschwollene Gesprächsstrom wieder versiegt war.
Dann öffnete Sophie die Tür und blickte sie aus verquollenen Augen an. »Glaubst du ernsthaft,
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