Herbstbringer (German Edition)
hörte er ein eiskaltes Flüstern. »Sei froh, dass ich dich von diesem Leid erlöse.« Dann spürte er die Zähne an seinem Hals.
In dunkelroten Wogen floss sein Leben auf dem regennassen Pflaster davon. Endgültige Schwärze umfing ihn, bevor er den Zeugen bemerken konnte, der alles beobachtet hatte und sich gerade unauffällig aus dem Staub machen wollte.
Michael entging die Bewegung nicht.
Er schnellte herum, um gerade noch eine gebückt davoneilende Gestalt hinter der nächsten Ecke verschwinden zu sehen. Er fluchte lauthals und nahm die Verfolgung auf. Nicht, dass er sich ernstlich Sorgen machte, die Härte des Gesetzes zu spüren. Der Gedanke, dass dieser wenig stilvolle Gassenmord mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte, wog deutlich schwerer.
Er würde noch einen Mord begehen müssen.
Es bereitete ihm keine Mühe, dem Zeugen nachzustellen. Der arme Teufel legte dieselben dümmlichen Fluchtmuster an den Tag, die er schon seit unzähligen Jahrhunderten bei Menschen beobachtete. Anstatt sich in die nächstbeste U-Bahn zu retten oder in einem Kaufhaus unterzutauchen, hielt sich der immer wieder panisch um sich blickende Tölpel weiterhin in ruhigen Seitenstraßen auf.
Gelassen folgte Michael seinem Opfer in die Cannon Street. Endlich schien der Verfolgte ein Fünkchen Vernunft zu zeigen. Er änderte seinen Kurs und hielt auf die Monument Station zu. Für Michael bedeutete das zwar, dass er sich nun wirklich beeilen musste, gleichzeitig stellte er aber befriedigt fest, dass er nach diesem belebenden Abstecher wieder in die richtige Richtung unterwegs war.
Vor der U-Bahn-Station bemerkten die vorbeieilenden Passanten ein kurzes Flackern in der Luft, dann hatte Michael den Flüchtigen eingeholt. Zeit zu spielen.
»Mitkommen, Freundchen«, bellte er in einem Tonfall höchster Autorität.
Einige Köpfe drehten sich interessiert um, als ein sehr gepflegt wirkender Herr einen deutlich jüngeren, lässig gekleideten Mann am Arm packte und ihn in Richtung der Monument-Säule davonzog. Es gab keinen Zweifel: Hier wurde ein Ladendieb oder sonstiger Kleinkrimineller auf der Flucht geschnappt. Zufrieden bemerkte Michael, dass die meisten Menschen um ihn herum keine Notiz von dieser Szene nahmen und einfach weitergingen. Es war vielleicht doch nicht alles schlecht an diesem modernen London.
Mit eisernem Griff schleppte Michael den Mann in Richtung der durchaus berechtigt Monument getauften Gedenksäule, die nach dem Großen Feuer von 1666 errichtet worden war. Sein nadelspitzer Zeigefinger presste sich gefährlich fest gegen den Hals des wimmernden Häufchens Elend und verhinderte erfolgreich panisches Gebrüll.
Im Laufschritt überbrückte Michael die letzten Meter zu der hohen Säule. Seit einer Stunde war sie für Besucher geschlossen. Michaels Angelegenheiten führten ihn immer erst nach Feierabend hierher.
Beiläufig berührte er eine Stelle in der Mauer über der Tür, woraufhin sie bereitwillig aufschwang. Er stieß sein Opfer in die Dunkelheit und folgte, ohne sich umzudrehen.
Auf ein unsichtbares Zeichen entzündeten sich zwei in die Wand eingelassene Fackeln, die regelmäßige Monument-Besucher verwundert hätten: Normalerweise fehlte im Erdgeschoss von Fackeln jede Spur. Achtlos stieß Michael sein Opfer zu Boden.
»Bitte … nicht töten«, stammelte es. Tränen liefen über das Gesicht des Mannes, den Michael auf Anfang zwanzig schätzte. Verdammt, dieses Blut würde bestimmt viel besser schmecken als das von dem Vegetarier eben.
Der Vampir beugte sich herab und fixierte ihn mit seinen stechenden, unsagbar tiefgründigen Augen.
»Wie kommst du darauf? Hast du vielleicht etwas Merkwürdiges gesehen?«
»Ich? Was soll ich denn gesehen haben? Ich habe gar nichts gesehen. Gar nichts.« Er kicherte wie wahnsinnig, als er ein kleines Fünkchen Hoffnung in der fackelerhellten Dunkelheit aufglimmen sah. Auch Michael entging der Hoffnungsschimmer in den zu Tode geängstigten Augen dieses Nichtsnutzes nicht. Es gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, trügerische Hoffnungen aufzubauen.
»Ich will dir glauben. Schließe die Augen, und wenn du hörst, wie die Tür ins Schloss fällt, darfst du sie wieder öffnen und verschwinden. Einverstanden?«
Hastiges Nicken zeigte Michael, dass er diesen Menschen genau da hatte, wo er ihn haben wollte. Wie kam dieser arme Teufel nur darauf, dass er ihn tatsächlich am Leben lassen würde?
Als Michael überlegte, wie er den Fremden töten sollte, kam ihm
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