Herbstbringer (German Edition)
sie wegen etwas anderem hier.
»Willst du was trinken?«
Er führte sie durch einen Flur voller alter Familienfotos, vorbei an einem überladenen Schirmständer und hinein in eine kleine, unaufgeräumte Küche. Erst jetzt schien ihm bewusst zu werden, in welch desolatem Zustand sie sich befand.
»Oh … ich wollte gerade spülen, als du geklingelt hast …«, sagte er und räumte hastig Pizzakartons, benutzte Teller und leere Colaflaschen auf einen beachtlichen Haufen.
»Ich hab keinen Durst, danke«, überspielte sie die Situation großzügig. »Ich hoffe, es ist okay, dass ich einfach aufgetaucht bin?«
»Bis auf die Sache mit dem Spülen? Natürlich! Aber wieso hast du nicht angerufen?«
Emily sah sich unsicher um. »Wollen wir vielleicht woanders hingehen?«
Sein Zimmer gefiel ihr sofort. Zwar hatte sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie es aussehen würde, stellte aber jetzt fest, dass sie es sich instinktiv ähnlich vorgestellt hatte. Sie setzte sich auf das Bett und musterte die Wände neugierig, während Jake geschäftig hin und her flitzte, das Licht dämpfte, ein Räucherstäbchen anmachte und dann neben ihr Platz nahm.
Nach eingehender Betrachtung des schummrigen Raumes kam Emily zu dem Schluss, dass sich dieses Zimmer nicht stärker von Sophies unterscheiden könnte, obwohl es in den Grundzügen keine Unterschiede gab. Auch hier gab es Bilder und Poster an den Wänden, allerdings mit einem grundsätzlichen Unterschied: Im Gegensatz zu Sophies quietschbunter Welt der Popsternchen und Hollywood-Schönlinge kamen die Bilder hier mit deutlich weniger Farben aus und zeigten hauptsächlich melancholische oder zumindest ernste Mienen. Dazu kamen einige Kunstdrucke und Postkarten düsterer Landschaftsmaler wie Caspar David Friedrich oder Edward Burne-Jones.
»Wie kommt es eigentlich, dass du so gut mit Sophie befreundet bist?«, fragte sie. »Ihr scheint sehr unterschiedlich zu sein …«
»Irgendwie schon«, stimmte Jake ihr zu, während er einen Stapel CD s nach geeigneter Musik durchsuchte. Es fiel ihm schwer, seine Nervosität im Zaum zu halten.
Emily war hier. In seinem Zimmer. Auf seinem Bett!
»Aber so ist das wohl, wenn man sich schon so lange kennt. Wir waren beide noch nie wirklich beliebt, mit dem Unterschied, dass sie schon lange alles versucht, um besser anzukommen. Aber mit Anne habe ich mich gut verstanden. Als sie verschwand, hatten wir nur noch uns. Ganz allein zu sein ist in einer kleinen Stadt wie dieser keine wirklich gute Idee, also waren wir wohl irgendwie beide froh, den anderen zu haben. Und wenn’s nur für den Schulweg und den einen oder anderen Videoabend war.«
Emily nickte. Tag für Tag allein in die Schule gehen zu müssen … das war keine wünschenswerte Vorstellung. »Also eher eine Zweckgemeinschaft?«
»So kann man das vielleicht sagen.« Jake grinste. »Sie kann echt lustig sein, aber du hast schon recht, wenn du sagst, dass wir uns nicht gerade ähnlich sind oder viele gemeinsame Hobbys haben.«
Unvermittelt stand er auf. »Jetzt weiß ich, was wir hören!«, rief er und legte eine CD ein. Was sie hörte, war zwar eindeutig modernen Ursprungs, hatte aber nichts von der einfachen Melodik, die sie dank Sophie bislang mit zeitgemäßer Musik in Verbindung gebracht hatte.
Jake entging ihr Gesichtsausdruck nicht. »Gefällt’s dir nicht?«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete sie. »Es ist nur … es klingt so anders als Sophies Musik. Nicht so … wie soll ich sagen, kindisch?«
»Das will ich hoffen. Muse sind nicht gerade bekannt dafür, Kindergartenmusik zu spielen.«
Gebannt lauschte sie dem ersten Song. Natürlich war es keine klassische Musik. Die Intensität und Tiefe konnten sich aber durchaus damit messen.
»Wie läuft es mit Sophie?«, fragte Jake nach einer Weile. »Nicht so gut, nehme ich an?«
Da war er wieder – der Kloß in ihrem Hals. Noch bevor sie antworten konnte, spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen traten. »Nein«, brachte sie heiser hervor. »Überhaupt nicht gut.«
Die Musik vermittelte ihr ein Gefühl, das ihren eigenen Emotionen erschreckend nahekam.
»Hey«, flüsterte Jake. Er rutschte näher an sie heran und legte behutsam einen Arm um ihre Schulter. »Benimmt sie sich immer noch so komisch?«
Sie schluchzte ein »Ja« und vergrub ihr Gesicht in Jakes Armen. Es tat unbeschreiblich gut, seine Nähe zu spüren.
»Das ist echt nicht okay von ihr. Und sie hat dir immer noch nicht gesagt, warum sie sich so
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