Herbstbringer (German Edition)
war es anders. Er stellte sie nicht aus Unglauben, sondern auf eine Art und Weise, die ihr verriet, dass er wusste, woran sie sich nicht mehr erinnern konnte.
»Das macht es um einiges kniffliger.« Er dachte nach. »Glaub mir, ich will dich nicht länger auf die Folter spannen als nötig«, ergänzte er schnell, als er Enttäuschung in ihren Zügen aufblitzen sah. »Du wirst es sehr bald verstehen, doch jetzt musst du mir vertrauen.«
Emily biss sich auf die Lippe und nickte tapfer. Was wusste er bloß über sie, das ihn so sehr auf der Hut sein ließ?
»Okay, versuchen wir es. Ist dir heute in den unterirdischen Gängen etwas Komisches passiert? Abgesehen von unserem Zusammentreffen, meine ich.«
»Nein«, antwortete sie nach kurzer Überlegung. »Bis auf die Musik eben. Ich dachte zuerst, dass niemand außer mir sie gehört hätte, weil keiner darauf reagiert hat. Aber du hast sie ja wohl auch gehört.«
Er lächelte schwach. »Ja, aber das ist ein anderes Thema. Und diese Musik, kam sie dir bekannt vor? Vertraut?«
»Nicht unbedingt«, sagte sie zögerlich. »Das heißt, anfangs dachte ich, dass sich die Melodie jeden Augenblick in etwas ändern müsste, das ich kenne. Das ist aber nicht passiert. Wieso hat das denn außer uns niemand gehört?«
»Auch das hat seine Gründe. In dem Fall ist es wohl ungefährlich zu sagen, dass du beinahe in eine tödliche Falle getappt wärst. Die Schächte und Tunnel dieser Stadt sind voll von Bösem, Albträumen und Wahnsinn. Sie haben dich gespürt und mit dieser Melodie angelockt. Deshalb hat sie auch kein anderer vernommen – sie wollten nur dich.«
»Wer sind sie ?« Ihr wurde ganz anders.
»Man nennt sie die Sirenen. Doch glaub mir, mit der betörenden Form dieser mythologischen Kreaturen haben diese Dinger nichts gemein. Sie sind eine Schande für uns.«
»Für uns? Kannst du mir nicht endlich sagen, was du weißt?«
Elias atmete tief durch. »Nur, wenn du mir versprichst, nicht wegzulaufen.«
Emily schaute sich um. Sie wusste nicht mal den Weg durch das Gebäude zurück. Sollte sie vielleicht in den Tunnel rennen?
»Die Musik, die dich heute angelockt hat – sie wurde dir zu Ehren geschrieben. Zu deiner Geburt! Du bist kein Mensch, Herbstbringer. Du bist ein Vampir.«
Die Stille, die diesen Worten folgte, war nur oberflächlich. In Emilys Kopf brüllte, rauschte und tobte es so, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Schemenhaft nahm sie wahr, wie Elias sie stützte, zur Hauswand führte und sanft auf den Boden gleiten ließ. Er ging neben ihr in die Hocke und blickte sie schweigend an. Unzählige Gedanken wirbelten in ihr durcheinander, entglitten ihr aber, bevor sie sie zu fassen bekam.
»Jakes Großvater hatte recht?« Das war nicht der wichtigste Gedanke. Es war nur der erste, den sie nach einigen Minuten artikulieren konnte.
Für Elias schien diese Äußerung alles andere als nebensächlich zu sein. »Jemand hat davon gewusst?«, fragte er mit gepresster Stimme. »Wer?«
Emily blickte ihn erstaunt an. »Wieso ist das so wichtig? Du hast es schließlich auch gewusst, oder?« Kleinlaut fügte sie hinzu: »Wenn es denn stimmt.«
»Du hast recht, verzeih mir. Ich erwarte natürlich nicht, dass du mir – oder sonst wem – so ohne Weiteres glaubst. Aber deine Reaktion zeigt mir, dass auch du bereits über diese Möglichkeit nachgedacht hast.«
»Ja.« Sie zögerte. »Irgendwann ist man sogar bereit dazu, den unwahrscheinlichsten Theorien etwas abzugewinnen.«
»So unwahrscheinlich wie die, dass du ein Vampir bist?«
Sie lächelte schwach. »Zum Beispiel.«
»Ich kann es dir beweisen. Hier und jetzt. Aber du musst dafür bereit sein.«
»Kann man für so was überhaupt bereit sein?«, fragte sie mit gesenktem Blick.
»Ich will ehrlich sein: Ich weiß es nicht.«
»Du sagst, dass du auch ein Vampir bist. Kannst du mir für den Anfang nicht das beweisen?«
Er blickte sie anerkennend an. »Auch an dieser Legende scheint etwas dran zu sein.«
Er streckte den linken Arm aus, holte mit einer verschwimmend schnellen Bewegung ein schlankes Messer aus seiner rechten Jackentasche und schnitt sich quer über die Handfläche.
»Nicht!« Emily sprang entsetzt auf und wich zurück.
»Schhhh«, machte Elias, »sieh her.«
Anfangs nur widerwillig, dann mit wachsender Faszination blickte Emily auf die Wunde, die sich vor ihren Augen schloss.
»Wie alt bist du?«, fragte Emily mit Bestimmtheit in der Stimme.
»Einhundertneunundneunzig Jahre, ein paar
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