Herbstbringer (German Edition)
dich nicht an zu viel auf einmal erinnerst. Andernfalls würde sich sehr schnell ungebetener Besuch ankündigen.« Er deutete in Richtung des Tunnels. »Sie würden dich sofort spüren, selbst aus großer Entfernung. Gedanken sind etwas sehr Mächtiges – deine ganz besonders.«
»Wie willst du verhindern, dass sie das tun?« Sie fragte gar nicht erst, wieso sie sich dann ausgerechnet hier getroffen hatten, in der Abgeschiedenheit, direkt an einem Eingang zu Londons Untergrund. Derzeit war die Brisanz dieser Frage gegenüber anderen schlichtweg zu vernachlässigen. Sie wollte einfach nur noch Gewissheit haben. Ob sie dann immer noch so gut damit klarkommen würde?
»Ganz sicher bin ich nicht, aber ich glaube, eine gute Methode gefunden zu haben, das zu kontrollieren. Bist du bereit?«
Emily nickte nur. Ihr Mund war plötzlich staubtrocken.
»Okay, schließ die Augen und mach deine Hand auf.«
Elias legte ihr einen kalten Gegenstand in die Handfläche. »Öffne sie.«
Emily blickte auf einen Messinganhänger an einem Lederband. Es war eine kleine Voliere.
Der allgegenwärtige Herbstwind schwoll zu einem monotonen Rauschen an. Wie kleine Ameisen krabbelte von allen Seiten eine faserige Schwärze in ihr Sichtfeld, blendete den Innenhof und Elias nach und nach aus.
»Öffne sie.«
Sie blickte auf einen Anhänger an einer silbernen Kette. Es war eine kleine Voliere.
»Oh.« Es misslang ihr offensichtlich, die Enttäuschung aus ihrer Stimme zu verbannen.
Er sah sie verletzt an. »Ich hatte gehofft, er gefällt dir. Wenn nicht, dann …«
»Nein, das ist es nicht.« Sie suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Wieso machte sie sich überhaupt die Mühe? »Weißt du, diese Voliere erinnert mich nur zu sehr daran, dass ich selbst nicht mehr bin als ein eingesperrtes Tier. Meine Eltern, oder sagen wir besser mein Vater hat schließlich sehr genaue Vorstellungen, wie mein Leben auszusehen hat.«
Elias blickte sich zu ihnen um. Sie standen etwas abseits und unterhielten sich angeregt mit diesen überkandidelten Cutberths. Wie sie diese offiziellen Empfänge hasste. Und die in Fonthill Abbey ganz besonders! Die Gespräche hatten stets denselben Inhalt: Wer wie viele Menschen auf dem Gewissen hatte, wer die amüsanteste neue Jagdmethode entwickelt hatte, wer dubiose neue Reichtümer aufgetan hatte. Auf William Beckfords protzigem Anwesen ergänzt um endlose Darstellungen exzentrischer Lebensweise.
»Ich finde deine Eltern bewundernswert.«
Sie schnaubte. »Das tun alle. Ich würde gerne mal etwas Originelles über sie hören. Zum Beispiel, dass mein Vater die meisten seiner sogenannten Vertrauten nicht ausstehen kann.«
Schon wieder dieser verletzte Blick. Insgeheim wusste sie, dass sie ihm absichtlich wehtat. »Meinst du, du kannst uns noch einen Wein holen? Vielleicht wird dieser Empfang dann etwas erträglicher.«
»Sehr gerne.« Wie eine geschäftige Biene hastete er davon.
Den dürfte sie für einige Minuten los sein. Sie wusste genau, was ihre Eltern bezweckt hatten, als sie mit Elias bekannt gemacht worden war. Gute Herkunft, ehrbares Elternhaus, beachtliches Vermögen. Ein klassischer Oberschichtvampir. Sie schüttelte verächtlich den Kopf. Diese Gesellschaft richtete ihr Leben nach einem Jane-Austen-Roman aus. Widerlich. Was hatte es für einen Sinn, mächtiger zu sein als die Menschen, wenn man sich dennoch in dieses viel zu enge Korsett zwängen musste?
Dann erspähte sie endlich jemanden in der Menge, der genauso dachte wie sie. Ein vieldeutiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Unauffällig versuchte sie, näher an ihn heranzukommen. Er stand etwas abseits, offensichtlich gelangweilt von so viel honoriger Gesellschaft und gerade damit beschäftigt, eines der großen Fenster des Salons zu öffnen.
Ihre Blicke trafen sich nicht zum ersten Mal – und nicht zum ersten Mal wurde dieser Moment zerstört.
»Thomas Prest, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
Wie auf einen unsichtbaren Befehl ihrer Eltern hin rauschte Lady Cutberth in einem Albtraum aus Rosa heran. Dicht dahinter folgte der strenge Blick ihres Vaters. Ertappt! Den Rest des Abends würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen.
»Lady Cutberth.« Mit einem gequälten Lächeln wandte er sich von ihr ab. Wie sie es hasste! »Was können Sie nur meinen, Teuerste? Diesen gewagten Mantel vielleicht? Ich versichere Ihnen, er ist aus Italien. Erst letzte Woche aus Mailand eingetroffen. Oder meinen Sie etwa meinen Versuch, für ein wenig
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