Herbstbringer (German Edition)
frische Luft zu sorgen? Ich war der Ansicht, sie würde diesen trockenen Gesprächen guttun.«
Er lächelte süffisant. Was für ein Charmeur, dachte sie halb eifersüchtig, halb bewundernd. Außerdem sah er blendend aus in diesem langen Mantel. Sie wusste natürlich von den wilden Gerüchten, die ihn umgaben. Autor, Musiker, Verführer. Doch selbst wenn sie der Wahrheit entsprachen, wäre er immer noch ein Lamm unter Wölfen. Selbst sie hatte weit schlimmere Taten begangen, das wusste sie. Ihr Vater rief ihr das immer wieder ins Gedächtnis, als wolle er sie dadurch auf den richtigen Weg zurückführen. Dass sie sich jedes Mal nur weiter davon entfernte, wollte er nicht wahrhaben.
»Aber nein, ich meine natürlich die fürchterliche Geschichte, an der sie gerade schreiben. Varney the Vampire , heißt sie nicht so? Sie stecken doch dahinter, nicht wahr? Sie und dieser verlumpte Schotte … Rymer. Ist es nicht so? Mir können Sie es doch sagen: Haben Sie ihn gebissen?«
Rund um sie herum verstummten die Gespräche, als hätte die gesamte Gesellschaft geradezu darauf gewartet, endlich mehr über diese Sache zu erfahren. Schon rauschte ihr Vater heran – wie immer, wenn sich irgendwo ein Mittelpunkt auftat, in dem er sich platzieren konnte.
»Aber Elizabeth, wir wollen unsere sinnigen Gespräche nicht durch derlei geschmacklosen Unfug unterbrechen, nicht wahr?« Er formulierte den Satz nicht als Frage. Sein Vokabular bestand praktisch nur aus Befehlen.
»Komm.« Er warf Prest einen zutiefst verachtenden Blick zu und hakte Lady Cutberth bei sich ein. »Ich denke nicht, dass wir uns seine Märchen anhören sollten. Dieser Byron hat sich mit seinem sentimentalen Schauerkitsch schon lächerlich genug gemacht. Auf die literarischen Krämpfe zweier … abartiger Randerscheinungen können wir da sehr wohl verzichten.«
»Und damit nicht genug«, schaltete sich einer der unzähligen Untertänigen aus dem Gefolge ihres Vaters ein. Schon bei seinem nasalen Tonfall wurde ihr übel. »Wenn Polidori und Byron mit ihrem Vampyr tatsächlich Erfolg gehabt hätten, wären wir in den Augen der Welt längst ein Haufen parfümierter Schwächlinge!«
Affektiertes Gelächter gab dem Stiefellecker recht. Sie kochte vor Wut. Bei der nächsten Gelegenheit würde sie diesen Schleimer bei ihren Eltern anschwärzen. Einen Vorteil hatte dieser neue Kontrollwahn: Sie musste nur beiläufig erwähnen, von diesem oder jenem unsittlich angesehen worden zu sein, und schon sah man gewisse Männer nie wieder. Sie hatte nicht einmal Mitleid mit ihnen. Viel zu lange hatte sie genauso gelebt wie diese Tiere. Doch damit würde bald Schluss sein.
»Nun, darüber mache ich mir bei diesem Prest hier nicht die geringsten Sorgen.« Wieder ihr selbstgefälliger Vater. »Denn wer sollte dieser kruden Geschichte Glauben schenken? Selbst wenn sie veröffentlicht werden sollte, was angesichts des mittelmäßigen Stils mehr als fraglich ist, werden die Menschen sie als Ammenmärchen abtun. Ein Vampir, der am Galgen stirbt? Noch dazu einer, der diese wundervolle Gabe als Krankheit ansieht? Als ob sich dies in der Weltliteratur durchsetzen würde! Nein, die Menschheit muss in Angst und Schrecken versetzt werden. Konstant. Prests Lebensstil mag den willensschwachen Frauen zwar zuträglich sein, unserem Ruf ist es dies allerdings nicht. Ende der Debatte.«
Von allen Seiten hagelte es Zustimmung. »Dieser Prest ist die Pest« gehörte noch zu den kreativeren Wortmeldungen der hörigen Gefolgschaft. Sehnsüchtig sah sie Thomas nach, der ohne ein weiteres Wort aus dem Raum stürmte. Wenn sie nur mit ihm verschwinden könnte. Er sprach schon lange davon, England zu verlassen. Zu gern würde sie mit ihm reisen, ihr Leben hinter sich lassen. Manchmal wünschte sie sich, ihre Familie wäre so unbedeutend wie all die anderen.
Ihr Blick traf den ihrer Mutter. Schon wollte sie untertänig den Blick senken, wie man es ihr beigebracht hatte. Dann entdeckte sie etwas in den Augen ihrer Mutter. Es lag keine Strenge, keine Rüge darin. Sie sah Liebe in ihren Augen aufblitzen. Eine ganz und gar einzigartige Emotion in diesem Kosmos aus Stolz, Überheblichkeit und Menschenhass.
»Wohl gesprochen«, lobte Lord Richmond und hob sein Glas. »Auf die Lebenden – und ihren ewigen Tod.«
Ihr Vater bleckte zwei gefährlich blitzende Zähne. »Auf die Toten – und unser ewiges Leben.«
Sie prallte zurück. Ihr Atem drang rasselnd aus ihr hervor, als wäre er ein unruhiger Geist in
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