Herbstfeuer
Bowman.“
„Nehmen Sie es meiner Schwester nicht übel, Lord Westcliff“, sagte Daisy hinter ihnen. „Sie macht sich nur Sorgen über das, was passieren könnte, wenn man uns erwischt. Sie müssen wissen, dass wir eigentlich schlafen sollten. Mutter hat uns in unserem Zimmer eingeschlossen, und …“
„Daisy“, wurde sie von Lillian unterbrochen, „das will der Earl nicht hören.“
„Ganz im Gegenteil“, sagte Marcus. „Die Frage, wie Sie entkommen konnten, interessiert mich sehr. Das Fenster?“
„Nein, ich habe das Schloss geknackt“, erwiderte Lillian.
Spöttisch fragte er: „Hat man Ihnen das in der Schule für Höhere Töchter beigebracht?“
„Wir haben keine solche Schule besucht“, erklärte Lillian. „Ich habe es mir selbst beigebracht. Seit frühester Kindheit war ich zu oft auf der falschen Seite einer verschlossenen Tür.“
„Welch eine Überraschung.“
„Vermutlich haben Sie nie etwas getan, wofür man Sie bestrafen musste“, sagte Lillian.
„Tatsächlich wurde ich sehr oft bestraft. Aber nur selten eingeschlossen. Meinem Vater schien es angemessener – und befriedigender –, mich für meine Untaten zu schlagen.“
„Das klingt, als wäre er sehr grausam gewesen“, bemerkte Lillian, und hinter ihnen schrie Daisy leise auf.
„Lillian, über die Toten solltest du nichts Schlechtes sagen. Und ich glaube nicht, dass es dem Earl gefällt, wenn du seinen Vater beleidigst.“
„Nein, er war wirklich grausam“, sagte Marcus mit einer Offenheit, die der Lillians in nichts nachstand.
Sie erreichten eine Öffnung in der Hecke, wo neben dem Haus ein gepflasterter Weg verlief. Marcus bedeutete den Mädchen, still zu sein, blickte auf den leeren Weg, winkte sie zu dem Versteck, das ein hochgewachsener, schmaler Wacholder bot, und deutete auf den linken Teil des Weges. „Der Kücheneingang ist da drüben“, flüsterte er. „Wir gehen dort hinein und nehmen die Treppe zum zweiten Stock, und ich zeige Ihnen den Gang, der zu Ihrem Zimmer führt.“
Die Mädchen sahen ihn mit strahlendem Lächeln an, die Gesichter einander so ähnlich und doch so verschieden.
Daisys Wangen waren rundlicher, und sie besaß die altmodische Schönheit einer Porzellanpuppe, die in seltsamem Gegensatz zu ihren fremdartigen braunen Augen stand. Lillians Gesicht wirkte schmaler und ein wenig katzenhafter, mit schräg geschnittenen Augen und vollen, runden Lippen, die sein Herz schneller schlagen ließen.
Als sie sprach, betrachtete Marcus noch immer ihren Mund. „Danke, Mylord“, sagte sie. „Ich gehe davon aus, dass Sie über unser Spiel Stillschweigen bewahren werden?“
Wäre Marcus ein anderer Mann gewesen, oder hätte er auch nur das geringste romantische Interesse an einem der Mädchen gehabt, hätte er die Situation mit einem kleinen Flirt und etwas Erpressung ausnutzen können. Doch er nickte nur und entgegnete: „Sie können sich darauf verlassen.“
Ein weiterer Blick bestätigte ihm, dass der Weg noch immer leer war, und alle drei verließen das Versteck unter dem Wacholder. Unglücklicherweise befanden sie sich gerade in der Mitte zwischen dem Strauch und dem Kücheneingang, als sie Geräusche hörten. Jemand näherte sich.
Daisy sprang davon wie ein erschrockenes Reh und erreichte innerhalb einer Sekunde die Küchentür. Lillian dagegen wählte die andere Richtung und hastete zurück zu dem Wacholderbusch. Ohne nachzudenken, folgte Marcus ihr gerade in dem Moment, als drei Gestalten auf dem Weg erschienen. Während er mit ihr in dem engen Versteck zwischen der Hecke und dem Wacholder stand, kam er sich mehr als nur ein bisschen lächerlich vor – er versteckte sich vor seinen eigenen Gästen. Allerdings würde er sich so schmutzig und staubig äußerst ungern in Gesellschaft zeigen … In diesem Moment gerieten seine Überlegungen ins Stocken, denn plötzlich fühlte er Lillians Hände an seinen Schultern und wie sie ihn tiefer in den Schatten zog. Ihn an sich zog. Sie zitterte. Vor Angst, wie er zuerst dachte. Erschrocken über seine Beschützerinstinkte, legte er den Arm um sie. Doch schnell stellte er fest, dass sie lautlos lachte, so unerklärlich belustigt von der Situation, dass sie die Geräusche an seiner Schulter ersticken musste.
Fragend lächelte er sie an und strich eine schokoladenbraune Haarsträhne zurück, die ihr über das rechte Auge gefallen war. Durch die duftenden, dichten Zweige des Wacholders spähte er hinaus. Er erkannte die Männer, die langsam
Weitere Kostenlose Bücher