Herbstfeuer
gewesen. „Westcliff und ich mussten uns ein paar Minuten lang verstecken“, hörte Lillian sich sagen, während ihr zahllose Gedanken im Kopf herumgingen. „Vater war bei den Männern, die den Weg entlangkamen.“
„Himmel!“ Daisy schwang die Beine aus dem Bett und sah Lillian entsetzt an. „Es war sehr kameradschaftlich von Lord Westcliff, uns nicht zu verraten, oder?“
„Kameradschaftlich, ja.“
Plötzlich erschien ein Lächeln auf Daisys Gesicht. „Es war so komisch, als er dir zeigte, wie man den Ball schlägt – ich war sicher, du würdest ihm eins mit dem Schläger überziehen!“
„Ich war in Versuchung“, erwiderte Lillian, erhob sich aus dem Bett und ging zum Fenster, um die Vorhänge zu öffnen. Als sie den schweren Damast beiseitezog, schien die Nachmittagssonne ins Zimmer, und kleine Staubflocken wirbelten durch die Luft. „Westcliff sucht doch immer einen Grund, um seine Überlegenheit zu beweisen, oder?“
„Hat er das getan? Es sah eher so aus, als suchte er einen Grund, den Arm um dich zu legen.“
Erschreckt durch diese Bemerkung, sah Lillian die Schwester aus zusammengekniffenen Augen an. „Warum sagst du so etwas?“
Daisy zuckte die Achseln. „Da lag etwas in der Art, wie er dich ansah …“
„Welche Art?“, wollte Lillian wissen. Panik stieg in ihr auf.
„Nun ja, auf eine – interessierte Art.“
Lillian verbarg ihre Erregung hinter einer gerunzelten Stirn. „Der Earl und ich, wir verachten einander“, erwiderte sie mit gepresster Stimme. „Das Einzige, was ihn interessiert, ist ein mögliches Geschäft mit Vater.“ Sie verstummte und trat zum Frisiertisch, wo ihr Parfümflakon im Sonnenlicht glitzerte. Sie nahm ihn in die Hand und rieb ein paarmal mit dem Daumen über den Stöpsel. „Wie auch immer“, sagte sie langsam. „Es gibt etwas, das ich dir sagen muss, Daisy. Während Westcliff und ich hinter der Hecke warteten, geschah etwas …“
„Ja?“, fragte Daisy neugierig.
Unglücklicherweise erschien gerade in diesem Augenblick ihre Mutter wieder im Zimmer, gefolgt von zwei Hausmädchen, die mühsam einen Badezuber hereinschleppten. Solange ihre Mutter sich in der Nähe aufhielt, gab es keine Gelegenheit für Lillian, unter vier Augen mit Daisy zu sprechen. Und das war vermutlich gar nicht so bedauerlich, weil es ihr die Möglichkeit gab, über die ganze Angelegenheit nachzudenken. Sie schob den Parfümflakon in das Retikül, das sie an jenem Abend zu tragen gedachte, und fragte sich, ob Westcliff wirklich unter der Wirkung des Duftes gestanden hatte. Etwas war geschehen, sonst hätte er sich nicht so seltsam benommen. Und aus der Miene zu schließen, die er aufsetzte, als er das begriff, war Westcliff selbst erschrocken angesichts seines Verhaltens.
Es erschien ihr naheliegend, das Parfüm zu testen. Sie lächelte, als sie daran dachte, dass ihre Freundinnen sicher gern bereit wären, ihr bei dem einen oder anderen Experiment zu helfen.
Die Mauerblümchen kannten sich jetzt seit ungefähr einem Jahr. Früher hatten sie gemeinsam während der Tanzveranstaltungen an der Wand gesessen. Rückblickend wusste Lillian nicht mehr, warum es so lange gedauert hatte, bis sie Freundschaft schlossen. Vielleicht bestand einer der Gründe darin, dass Annabelle eine solche Schönheit war mit ihrem honigblonden Haar, den strahlend blauen Augen und der üppigen, fein gerundeten Figur.
Niemand konnte sich vorstellen, dass ein so göttliches Geschöpf sich mit gewöhnlichen Sterblichen anfreunden würde. Evangeline Jenner andererseits war so schüchtern und stotterte so sehr, dass ein Gespräch mit ihr nicht einfach war.
Doch als es endlich nicht mehr zu leugnen war, dass keine von ihnen ihr Mauerblümchen-Dasein aus eigener Kraft überwinden könnte, hatten sie sich zusammengetan, um einander bei der Suche nach einem Ehemann zur Seite zu stehen. Und mit Annabelle hatten sie angefangen. Mit vereinten Kräften war es gelungen, einen Ehemann für Annabelle zu finden, auch wenn Simon Hunt nicht der Adlige war, den sie ursprünglich für sich hatte gewinnen wollen. Lillian musste zugeben, dass trotz ihrer anfänglichen Bedenken bezüglich dieser Ehe Annabelle die richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie Hunt heiratete. Jetzt war Lillian als das nächstälteste Mauerblümchen an der Reihe.
Die Schwestern badeten, wuschen sich die Haare und ließen sich danach von zwei Hausmädchen beim Anziehen helfen. Wie ihre Mutter sie angewiesen hatte, legte Lillian ein
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