Herbstfeuer
Tropfen auf Hals und Handgelenke getupft hatte, steckte sie die Flasche in ihr Retikül zurück und erhob sich.
„Nun“, sagte sie zufrieden und sah die Mauerblümchen an, „gehen wir und suchen Westcliff.“
5. KAPITEL
Marcus, der noch nichts von dem unmittelbar bevorstehenden Anschlag auf ihn ahnte, saß ganz entspannt in seinem Arbeitszimmer, zusammen mit seinem Schwager Gideon Shaw sowie seinen Freunden Simon Hunt und Lord St. Vincent. In diesen privaten Raum hatten sie sich zurückgezogen, um miteinander zu plaudern, ehe das formelle Dinner begann. Er lehnte sich in seinem Stuhl hinter dem massiven Mahagonischreibtisch zurück und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Gleich acht – höchste Zeit, sich zu der Gesellschaft zu begeben, vor allem, da er selbst der Gastgeber war. Doch er rührte sich nicht und betrachtete die Uhr mit der finsteren Miene eines Mannes, der eine unangenehme Pflicht absolvieren musste.
Er würde mit Lillian Bowman sprechen müssen. Der gegenüber er sich heute wie ein Verrückter aufgeführt hatte.
Sie gepackt und geküsst hatte wie ein Berserker, in einem Ausbruch irregeleiteter Leidenschaft. Der Gedanke allein veranlasste ihn, sich unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu bewegen.
Marcus’ direkte Art zwang ihn, sich der Situation ohne Umschweife zu stellen. Für dieses Dilemma gab es nur eine mögliche Lösung – er würde sich für sein Verhalten entschuldigen und versprechen müssen, dass dergleichen nie wieder geschah. Er wollte verdammt sein, wenn er den nächsten Monat damit verbrächte, um diese Frau herum zu schleichen, nur um ihr nicht zu begegnen. So etwas kam nicht infrage.
Er hätte nur zu gern gewusst, warum es überhaupt dazu gekommen war.
Seit dem Moment dort hinter der Hecke hatte Marcus an nichts anderes mehr denken können – wie er auf so erstaunliche Weise die Haltung verloren hatte und – noch verwirrender – wie viel Befriedigung es ihm verschafft hatte, dieses schreckliche Mädchen zu küssen.
„Unsinn“, ließ sich St. Vincent vernehmen. Er saß an der Ecke des Schreibtischs und blickte durch ein Stereoskop.
„Wer interessiert sich für Landschaften und Gebäude?“, fuhr er fort. „Du brauchst ein paar Karten mit Frauen, Westcliff. Das wäre einen Blick durch dieses Ding wert.“
„Ich denke, dass du davon im wirklichen Leben genug siehst“, erwiderte Marcus trocken. „Beschäftigst du dich nicht ein bisschen zu viel mit der weiblichen Anatomie, St. Vincent?“
„Du hast deine Steckenpferde, ich die meinen.“
Marcus sah seinen Schwager an, der so höflich war, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, und Simon Hunt, den der Wortwechsel zu amüsieren schien. In Bezug auf Charakter und Herkunft waren alle Männer sehr verschieden.
Ihre einzige Gemeinsamkeit war ihre Freundschaft zu Marcus. Gideon Shaw bot den größtmöglichen Widerspruch in sich als „amerikanischer Aristokrat“, der Urenkel eines ehrgeizigen Yankee-Captains. Simon Hunt war Unternehmer, eigentlich der Sohn eines Metzgers, der nicht nur gewitzt und unternehmungslustig war, sondern auch in jeder Hinsicht absolut vertrauenswürdig. Außerdem gab es da noch St. Vincent, ein Schwerenöter ohne Prinzipien und großer Liebhaber der Frauen. Stets war er bei den beliebtesten Festen und Treffen zu finden, wo er nur blieb, bis die Konversation ihn zu langweilen begann – nämlich immer dann, wenn sie sich etwas Ernsthaftem oder Tiefgründigem zuwandte. In diesem Fall verschwand er sofort, um sich neuen Herausforderungen zu stellen.
Bei niemandem sonst hatte Westcliff je einen so tief sitzenden Zynismus erlebt. Beinahe nie sprach der Viscount das aus, was er meinte, und falls er jemals für jemanden Mitleid empfand, so verbarg er das hervorragend. Eine verlorene Seele, nannten die Leute ihn zuweilen, und es schien, als wäre St. Vincent verdammt. Ebenso wahrscheinlich war es, dass Hunt und Shaw ihn ohne die gemeinsame Freundschaft mit Marcus niemals toleriert hätten.
Marcus selbst hätte vermutlich wenig mit St. Vincent zu tun gehabt, wenn es nicht die Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit gegeben hätte. Immer wieder hatte St. Vincent sich als verlässlicher Freund erwiesen, der Marcus aus Schwierigkeiten befreite und Leckereien von zu Hause ebenso großzügig wie selbstverständlich mit ihm teilte. Und bei einem Kampf war er stets als Erster an Marcus’ Seite gewesen.
St. Vincent hatte verstanden, was es bedeutete, wenn ein Elternteil einen
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