Herbstfeuer
verachtete, denn sein eigener Vater war nicht besser gewesen als Westcliffs. Die beiden Jungen hatten sich gegenseitig mit boshaftem Humor bemitleidet und getan, was nur möglich war, um einander zu helfen. In den Jahren, die seither vergangen waren, hatte St.Vincents Charakter sich offensichtlich verändert, aber Marcus gehörte nicht zu den Menschen, die alte Schulden vergaßen. Und niemals würde er einem Freund den Rücken zukehren.
Wie St. Vincent so in dem Stuhl neben Gideon Shaw saß, boten die beiden ein ansehnliches Bild – beide blond und offensichtlich von der Natur begünstigt, und doch so unterschiedlich in ihrem Erscheinungsbild. Shaw wirkte wie der klassische Kosmopolit, mit einem Lächeln, das jeden betörte, der es sah. Seine Züge waren wettergegerbt und zeigten, dass das Leben, trotz seines materiellen Reichtums, nicht immer leicht für ihn gewesen war. Welche Schwierigkeiten sich ihm auch immer in den Weg stellen mochten, er handhabte sie mit Würde und Geist.
Im Gegensatz dazu besaß St. Vincent eine fremdartige männliche Schönheit, mit katzenhaft anmutenden blauen Augen und einem grausamen Zug um die Mundwinkel, wenn er lächelte. Hätte es ihm geschmeichelt, sich wie ein Dandy zu kleiden, so hätte St. Vincent das zweifellos getan. Doch er wusste, dass jede Art von Schmuck nur von seinem strahlenden Aussehen ablenkte, und daher kleidete er sich schlicht in dunkle, gut geschnittene Anzüge.
Da St. Vincent anwesend war, wandte sich das Gespräch im Arbeitszimmer wie selbstverständlich den Frauen zu.
Drei Tage zuvor hatte eine verheiratete Lady der Londoner Gesellschaft versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre Affäre mit ihm zu Ende ging. Der Viscount hatte es vorgezogen, dem Skandal zu entfliehen, indem er nach Stony Cross Park kam. „Ein lächerliches Melodram“, spottete er und drehte seinen Cognacschwenker zwischen den Fingern. „Es wird behauptet, sie habe sich die Pulsadern aufgeschnitten, dabei hat sie sich nur ein paar Kratzer mit einer Hutnadel zugefügt und dann zu schreien begonnen, damit die Zofe ihr zu Hilfe kam.“ Voller Abscheu schüttelte er den Kopf. „Närrin. Nach all den Mühen, die wir auf uns nahmen, um die Affäre geheim zu halten, macht sie so etwas. Jetzt weiß jeder in London Bescheid, ihr Gemahl eingeschlossen. Und was wollte sie damit erreichen? Falls sie versuchte, mich zu bestrafen, weil ich sie verlassen hatte, wird sie jetzt hundertmal mehr leiden. Die Leute geben immer der Frau die Schuld, vor allem, wenn sie verheiratet war.“
„Wie hat der Ehemann reagiert?“, fragte Marcus und wandte sich damit den praktischen Dingen zu. „Ist es wahrscheinlich, dass er Vergeltung fordert?“
St. Vincents Miene drückte noch mehr Widerwillen aus. „Das bezweifle ich, denn er ist doppelt so alt wie sie und hat seine Frau seit Jahren nicht mehr angerührt. Er wird kaum das Risiko eingehen, mich zu fordern, um ihre sogenannte Ehre zu wahren. Solange sie über alles Schweigen bewahrte und es ihm ersparte, als Hahnrei gebrandmarkt zu werden, hätte er sie tun lassen, was ihr gefiel. Aber stattdessen hat sie alles unternommen, um ihre Indiskretionen publik werden zu lassen, die kleine Gans.“
Simon Hunt sah den Viscount ruhig an. „Es scheint mir interessant, dass Sie die Affäre als ihre Indiskretion bezeichnen und nicht als Ihre eigene.“
„So war es auch“, erwiderte St. Vincent. Das Licht fiel auf seine gleichmäßigen Züge. „Ich war diskret, sie war es nicht.“ Mit einem müden Seufzer schüttelte er den Kopf. „Ich hätte mich nicht von ihr verführen lassen dürfen.“
„Sie hat dich verführt?“, fragte Marcus skeptisch.
„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist…“ St.Vincent hielt inne. „Warte. Da mir nichts heilig ist, lass mich anders anfangen. Du musst mir einfach glauben, wenn ich sage, dass sie das Ganze initiiert hat. Rechts und links hat sie Hinweise fallen lassen, überall, wo ich erschien, tauchte auch sie auf, und sie schickte mir Nachrichten, in denen sie mich bat, sie zu besuchen, wann immer es mir gefiel, und versicherte mir, dass sie von ihrem Gemahl getrennt lebte. Ich habe sie nicht einmal begehrt – schon ehe ich sie anfasste, wusste ich, dass es tödlich langweilig werden würde. Bloß ging es so weit, dass es nicht passend gewesen wäre, sie zurückzuweisen, und daher ging ich zu ihrem Haus, und sie kam mir in der Eingangshalle nackt entgegen. Was hätte ich tun sollen?“
„Flüchten?“,
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