Herbstfeuer
stand. Wenn er sich in Gesellschaft befand, dann legte Bowman das ständig zerstreute Verhalten von jemandem an den Tag, der sich lieber anderswo befände. Erst wenn sich das Gespräch Geschäften zuwandte – irgendwelchen Geschäften –, wurde er äußerst aufmerksam.
„Guten Abend“, murmelte Marcus und beugte sich über Mercedes Bowmans Hand. Sie war so dünn, dass die Gelenke sich auch unter dem Stoff ihres Handschuhs deutlich abzeichneten, eine barsche Frau voller Ecken und Kanten, ein Bündel aus Nerven und kaum beherrschter Aggression. „Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie am Nachmittag nicht begrüßt habe“, fuhr Marcus fort. „Und lassen Sie mich Ihnen erklären, wie sehr mich Ihre Rückkehr nach Stony Cross Park erfreut.“
„0 Mylord“, flötete Mercedes. „Wir sind entzückt, uns wieder in Ihrem herrlichen Haus aufhalten zu dürfen! Und was diesen Nachmittag betrifft – wir dachten uns gar nichts bei Ihrer Abwesenheit. Ein so wichtiger Mann wie Sie, mit so vielen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, hat ja gewiss zahllose andere Verpflichtungen. Ah – ich sehe meine beiden reizenden Töchter dort hinten …“ Ihre Stimme wurde schriller, während sie rief, und sie winkte den beiden zu. „Mädchen! Mädchen, seht, wen ich getroffen habe. Kommt und begrüßt Lord Westcliff!“
Marcus behielt seine ausdruckslose Miene bei, als er sah, wie ein paar der Gäste, die sich in der Nähe befanden, die Brauen hochzogen. Er blickte in die Richtung, in die Mercedes so heftig winkte, und sah die Bowman-Schwestern, die jetzt gar nicht mehr den schmutzigen Wildfängen glichen, die zuvor im Stallhof gespielt hatten. Überrascht musterte er Lillian, die ein blassgrünes Kleid trug, dessen Mieder nur von zwei goldenen Spangen an den Schultern gehalten zu werden schien. Ehe er den Gedanken unterdrücken konnte, stellte er sich vor, wie er diese Spangen löste und die grüne Seide über die cremeweiße Haut ihrer Schultern glitt…
Eilig richtete Marcus den Blick auf Lillians Gesicht. Ihr schimmerndes Haar war sorgfältig aufgesteckt worden und schien beinahe zu schwer für ihren zierlichen Hals. Nun, mit ganz freier Stirn, wirkten ihre Augen noch katzenartiger als sonst. Als sie sich zu ihm umwandte, errötete sie ein wenig, dann neigte sie verhalten nickend den Kopf. Offensichtlich gehörte es zu den letzten Dingen, die sie tun wollte, jetzt den Raum zu durchqueren und zu ihm zu kommen. Marcus konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen.
„Es ist nicht nötig, Ihre Töchter zu rufen, Mrs. Bowman“, sagte er. „Sie genießen die Gesellschaft ihrer Freundinnen.“
„Ihrer Freundinnen“, wiederholte Mercedes verächtlich. „Wenn Sie damit diese skandalöse Annabelle Hunt meinen, so kann ich Ihnen versichern, dass ich nicht…“
„Mrs. Hunt gilt meine vorzüglichste Hochachtung“, unterbrach Marcus sie und sah der Frau fest in die Augen.
Von dieser Erklärung ein wenig verblüfft, erbleichte Mercedes und korrigierte sich sofort. „Wenn Sie, mit Ihrem überlegenen Urteilsvermögen, beschlossen haben, Mrs. Hunt zu schätzen, dann muss ich mich natürlich fügen, Mylord. Dennoch habe ich immer geglaubt…“
„Westcliff“, mischte sich Thomas Bowman ein, der sich weder für seine Töchter interessierte noch dafür, mit wem diese befreundet waren, „wann werden wir die Gelegenheit haben, über die Geschäfte zu sprechen, die wir in unserer Korrespondenz erwähnt hatten?“
„Morgen, wenn es Ihnen recht ist“, erwiderte Marcus. „Wir haben einen frühen Ausritt mit einem anschließenden Frühstück geplant.“
„Den Ritt werde ich auslassen, aber wir sehen uns beim Frühstück.“
Sie tauschten einen Händedruck, bevor Marcus sich mit einer leichten Verbeugung verabschiedete, um sich den anderen Gästen zu widmen. Bald gesellte sich ein Neuankömmling dazu, und alle beeilten sich, der winzigen Gestalt von Georgiana, Lady Westcliff, Platz zu machen, Marcus’ Mutter. Sie war stark gepudert, das silbern schimmernde Haar trug sie zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt, und ihre Handgelenke, ihr Hals und ihre Ohren waren mit funkelnden Juwelen geschmückt. Selbst ihr Stock glänzte, und der vergoldete Griff war mit Diamanten besetzt.
Es gab ältere Frauen, die nach außen eine raue Schale zeigten, tatsächlich aber ein Herz aus Gold hatten. Die Countess of Westcliff gehörte nicht dazu. Ihr Herz – falls sie tatsächlich eines besaß – war weder aus Gold noch aus einer anderen formbaren
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