Herbstfeuer
Substanz. Eine Schönheit war sie nicht und es auch niemals gewesen. Hätte man ihre kostbaren Gewänder durch ein einfaches Kleid und eine Schürze ersetzt, hätte man sie für eine alternde Milchmagd halten können. Ihr Gesicht war rund, der Mund schmal, die Augen erschienen so rund wie die eines Vogels, und ihre Nase war keineswegs bemerkenswert. Ihre auffallendste Eigenschaft war diese Aura äußerster Missbilligung, die sie umgab, wie bei einem Kind, das gerade ein hübsch verpacktes Geschenk geöffnet hatte, um festzustellen, dass es dasselbe bereits im Jahr davor bekommen hatte.
„Guten Abend, Mylady“, begrüßte Marcus seine Mutter und lächelte ihr zu. „Es ist uns eine Ehre, dass Sie sich heute Abend zu uns gesellen.“ Gelegentlich nahm die Countess an einem Dinner wie diesem teil, doch gewöhnlich bevorzugte sie es, ihr Essen in ihren Privatgemächern im oberen Stockwerk einzunehmen. Wie es schien, hatte sie beschlossen, an diesem Abend eine Ausnahme zu machen.
„Ich wollte nachsehen, ob es in dieser Menge ein paar interessante Gäste gibt“, erwiderte sie ein wenig unfreundlich und ließ ihren majestätischen Blick durch den Raum schweifen. „Wie es aussieht, scheint es sich aber nur um das übliche Volk von Langweilern zu handeln.“
Leises Gelächter war zu hören, als die Gäste – fälschlicherweise – vermuteten, dass es sich bei dieser Bemerkung um einen Scherz handelte.
„Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn Sie einige der Gäste kennengelernt haben“, meinte Marcus und dachte an die Bowman-Schwestern. Bei diesem unverbesserlichen Paar würde seine Mutter endlose Zerstreuung finden.
Wie es sich gehörte, geleitete Marcus die Countess in den Speisesaal, während die Gäste niederen Ranges folgten.
Die Dinner auf Stony Cross Park waren berühmt für ihre Üppigkeit, und dieses bildete keine Ausnahme. Acht Gänge mit Fisch, Wild, Geflügel und Rindfleisch wurden serviert, begleitet von frischen Blumengebinden, die mit jedem Gang erneuert wurden.
Marcus verzichtete auf das Dessert und trank ein Glas Portwein, wobei er zwischendurch immer wieder rasche Blicke zu Lillian Bowman warf. In den seltenen Momenten, in denen sie still und ruhig dasaß, wirkte sie wie eine Prinzessin. Doch sobald sie zu reden begann – wobei sie ihre Gabel schwenkte und die Gespräche der Männer unterbrach –, fiel alles Hoheitsvolle von ihr ab. Lillian war viel zu direkt, viel zu sicher, dass das, was sie sagte, interessant und des Zuhörens wert war. Sie unternahm keinen Versuch, so zu tun, als wäre sie beeindruckt von dem, was andere sagten, und schien unfähig zu sein, sich jemandem unterzuordnen.
Nachdem den Herren Portwein und den Damen Tee serviert worden war und man ein wenig müßig geplaudert hatte, zerstreuten sich die Gäste. Als Marcus sich mit einer kleinen Gruppe – zu denen auch die Hunts gehörten – langsam zur großen Halle begab, bemerkte er, dass Annabelle sich ein wenig seltsam benahm. Sie ging so nahe neben ihm her, dass ihre Ellenbogen sich berührten, und sie fächelte sich heftig Luft zu, obwohl es im Innern des Hauses recht kühl war. Fragend sah er sie an. „Ist es Ihnen hier drinnen zu warm, Mrs. Hunt?“
„Nun ja – Ihnen nicht auch?“
„Nein.“ Er lächelte ihr zu und fragte sich, warum sie dann abrupt mit dem Fächeln aufhörte und ihn prüfend musterte.
„Fühlen Sie irgendetwas?“
Belustigt schüttelte Marcus den Kopf. „Darf ich fragen, was Ihre Besorgnis erregt, Mrs. Hunt?“
„Oh, gar nichts. Ich fragte mich nur gerade, ob Sie wohl eine Veränderung an mir bemerkt haben.“
Marcus musterte sie flüchtig. „Ihre Frisur“, vermutete er. Er war mit zwei Schwestern aufgewachsen und wusste, dass meistens die Frisur gemeint war, wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde, ohne dass ihm jemand sagte, worum es ging. Zwar war es ein wenig unpassend, mit der Gemahlin seines besten Freundes über deren Aussehen zu sprechen, doch Annabelle schien in ihm eine Art Bruder zu sehen.
Bei seiner Antwort lächelte sie. „Genau, das ist es. Verzeihen Sie, dass ich mich ein wenig seltsam benahm, Mylord. Ich fürchte, ich habe etwas zu viel von dem Wein getrunken.“
Marcus lachte leise. „Vielleicht wird Ihnen die kühle Nachtluft guttun.“
Simon Hunt trat zu ihnen, hörte die letzte Bemerkung mit und legte die Hand an die Taille seiner Frau. Lächelnd küsste er ihre Schläfe. „Soll ich dich auf die hintere Terrasse führen?“
„Ja,
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