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Herbstfeuer

Herbstfeuer

Titel: Herbstfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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vernünftig?“
    Leicht schüttelte Westcliff den Kopf, und der Glanz in seinen Augen wurde heller, als er aus seinem Weinglas trank und sie über den Rand hinweg ansah.
    Ein anderer Gentleman äußerte eine scherzhafte Bemerkung in dem Sinne, dass man Westcliff von seinen liberalen Ansichten kurieren sollte, dann wurde der nächste Gang serviert. Der Einzug der seltsam unförmigen Gerichte auf silbernen Tabletts wurde mit Beifall und Jubel begleitet. Vier Tabletts kamen zu jedem Tisch, zwölf insgesamt, und angerichtet wurden sie auf kleinen, zusammenklappbaren Seitentischen, wo mehrere Diener sie anboten. Es roch nach gewürztem Fleisch, und die Gäste betrachteten den Inhalt der Platten mit leise geäußerter Vorfreude. Lillian drehte sich ein wenig herum, um einen Blick auf die Speise werfen zu können, die ihr am nächsten stand. Entsetzt wich sie zurück, als sie die runzligen Züge eines unkenntlichen Tieres sah, von dessen frisch gebackenem Schädel Dampf aufstieg.
    „Was – was ist das?“, fragte Lillian niemanden im Besonderen und vermochte nicht den Blick abzuwenden.
    „Ein Kalbskopf“, erwiderte eine der Ladies mit kaum verborgener Belustigung, offenbar hielt sie Lillians Unwissenheit für ein weiteres Beispiel der amerikanischen Rückständigkeit. „Eine besondere englische Delikatesse.
    Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie noch nie davon gekostet haben?“
    In dem Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, schüttelte Lillian wortlos den Kopf. Als der Lakai den Kiefer des Kalbs öffnete, um die Zunge herauszuschneiden, zuckte sie zusammen.
    „Manche Menschen halten die Zunge für den köstlichsten Teil“, fuhr die Dame fort. „Andere dagegen schwören, dass das Hirn bei Weitem zu bevorzugen sei. Meiner Meinung nach aber stellen die Augen die größte Leckerei dar.“
    Bei diesen Erläuterungen schloss Lillian ihre eigenen Augen. Sie fühlte, wie ihr übel wurde. Englische Küche hatte sie noch nie begeistert, doch obwohl sie manche Gerichte nicht mochte, so hatte sie doch nichts auf den abstoßenden Anblick des Kalbskopfs vorbereitet. Sie öffnete die Augen ein wenig und sah sich um. Überall schien man Kalbsköpfe anzuschneiden. Kalbshirn wurde auf Teller gelöffelt und die Kehle in kleine Scheiben geschnitten …
    Gleich würde sie sich erbrechen müssen.
    Sie fühlte, wie sie erbleichte, und blickte zum Ende der Tafel, wo Daisy zweifelnd ein paar Stückchen betrachtete, die man ihr umständlich auf den Teller legte. Langsam führte Lillian die Ecke ihrer Serviette zum Mund. Nein. Sie musste sich beherrschen. Doch überall roch sie den intensiven, fettigen Geruch des Kalbskopfes, und sobald sie das mechanische Klappern der Messer und Gabeln hörte und das beifällige Gemurmel der Speisenden, stieg die Übelkeit in erstickenden Wellen in ihr auf. Man stellte einen kleinen Teller vor sie hin, der ein paar Stücke enthielt von – was auch immer – und dazu einen gelatineartigen Augapfel, der langsam zum Rand rollte.
    „Liebe Güte“, flüsterte Lillian und fühlte, wie ihr Schweißperlen auf die Stirn traten.
    Da durchdrang eine ruhige, kühle Stimme den Nebel ihrer Übelkeit. „Miss Bowman …“
    Verzweifelt versuchte sie, in die Richtung zu blicken, aus der die Worte kamen, und sah Lord Westcliffs ausdrucksloses Gesicht. „Ja, Mylord?“, fragte sie mit belegter Stimme.
    Er schien sehr genau zu überlegen, was er jetzt sagen sollte. „Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen eine Frage stelle, die etwas exzentrisch anmutet – aber mir scheint, dass gerade jetzt der günstigste Zeitpunkt wäre, um eine besonders seltene Sorte von Schmetterlingen zu besichtigen, die auf diesem Anwesen lebt. Sie kommen nur am frühen Abend hervor, was natürlich eine Abweichung von dem Normalen darstellt. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich das während eines früheren Gesprächs erwähnte?“
    „Schmetterlinge?“, wiederholte Lillian und schluckte mehrmals, um den Brechreiz zu unterdrücken.
    „Vielleicht gestatten Sie mir, Sie und Ihre Schwester zum äußeren Gewächshaus zu geleiten, wo neue Exemplare erst kürzlich gesichtet wurden. Zu meinem Bedauern würde das bedeuten, dass wir jetzt hinausgehen, aber wir werden so rechtzeitig zurück sein, dass Sie den Rest des Dinners genießen können.“
    Mehrere Gäste hielten mitten im Essen inne, die Gabeln noch erhoben. Ihre Gesichter drückten Erstaunen aus über Westcliffs merkwürdige Bitte.
    Plötzlich erkannte Lillian, dass er ihr eine

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