Herbstfeuer
nicht?“
„Ich …“ Plötzlich fiel es ihr schwer, ruhig zu atmen. „Meine Ohren sind sehr empfindlich“, brachte sie schließlich heraus. „Ohrklipps tun mir weh, und die Vorstellung, die Ohrläppchen mit einer Nadel zu durchstechen …“ Sie hielt inne, um tief einzuatmen, als er mit einem Finger über ihre Ohrmuschel strich. Dann ließ er seinen Daumen über ihre Wange gleiten und die zarte Haut unter ihrem Kinn, bis sie fühlte, dass sie errötete. Sie saßen so nahe beieinander – vermutlich roch er ihr Parfüm. Das war die einzige mögliche Erklärung dafür, dass er ihr Gesicht berührte wie ein Liebhaber.
„Ihre Haut ist wie Seide“, murmelte er. „Worüber sprachen wir gerade? O ja, die Countess. Es gelang mir, sie dazu zu überreden, Sie und Ihre Schwester während der kommenden Saison unter ihre Fittiche zu nehmen.“
Vor Erstaunen machte Lillian große Augen. „Das haben Sie getan? Wie? Mussten Sie ihr drohen?“
„Halten Sie mich für einen Mann, der seine sechzigjährige Mutter bedroht?“
„Ja.“
Er lachte leise. „Ich verfüge über andere Methoden“, erklärte er ihr. „Sie haben sie nur noch nicht kennengelernt.“
In seinen Worten lag eine Andeutung, die sie nicht genau erklären konnte – aber sie erfüllte sie mit freudiger Erwartimg. „Warum haben Sie sie überredet, mir zu helfen?“, wollte sie wissen.
„Weil ich dachte, es könnte mir gefallen, Sie ihr auf den Hals zu hetzen.“
„Das klingt, als wäre ich eine Art von Pest …“
„Und“, fiel Westcliff ihr ins Wort, „ich fühlte mich verpflichtet, meine Grobheiten von heute Morgen wieder gutzumachen.“
„Es war nicht allein Ihre Schuld“, gestand Lillian widerstrebend. „Vielleicht habe ich mich ein wenig herausfordernd verhalten.“
„Ein wenig“, stimmte er zu und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass meine Mutter dieser Vereinbarung nicht ohne Bedingungen zustimmte. Wenn Sie zu weit gehen, wird sie sich widersetzen. Daher rate ich Ihnen, sich in ihrer Gegenwart zu benehmen.“
„Wie benehmen?“, fragte Lillian und war sich seiner Berührung nur zu bewusst. Wenn meine Schwester nicht bald zurückkommt, dachte sie benommen, wird Westcliff mich küssen. Und genau das wollte sie, so sehr, dass ihre Lippen zu zittern begannen.
Bei ihrer Frage lächelte er. „Nun, was immer Sie auch tun mögen, Sie sollten …“ Plötzlich verstummte er und sah sich um, als hätte er gehört, dass jemand kam. Lillian vernahm nichts als den Wind, der durch die Bäume strich und ein paar Blätter über den Kiesweg wehte. Doch gleich darauf erschien eine sehnige Gestalt zwischen dem Fackelschein und den Schatten, und der Glanz altgolden schimmernden Haars entlarvte die Gestalt als Lord St. Vincent. Westcliff ließ Lillian sofort los. Der Zauber war gebrochen, und sie fühlte, wie die Wärme von ihr wich.
St. Vincent näherte sich mit langen Schritten und doch entspannt, die Hände lässig in den Taschen seines Überrocks. Beim Anblick des Paares auf der Bank lächelte er und wandte den Blick nicht von Lillians Gesicht.
Zweifellos hatte dieser bemerkenswert schöne Mann mit dem Gesicht eines gefallenen Engels und Augen von der Farbe des Himmels bei Sonnenaufgang seinen Platz in den Träumen vieler Frauen. Und wurde von ebenso vielen gehörnten Ehemännern verflucht.
Eine ungewöhnliche Freundschaft, dachte Lillian und blickte von Westcliff zu St. Vincent. Dem Earl mit seinem direkten, von Prinzipien geprägten Wesen musste die Unberechenbarkeit des Freundes zweifellos missfallen. Aber wie es so oft der Fall war, mochte auch diese besondere Freundschaft von den Unterschieden mehr gestärkt als belastet werden.
St. Vincent blieb vor ihnen stehen und bekannte: „Ich hätte Euch bereits früher gefunden, doch ein Schwärm der Silbernen Acht griff mich an.“ Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern: „Keineswegs möchte ich jemanden beunruhigen, aber ich muss Euch warnen – es ist geplant, Nierenpudding als fünften Gang zu servieren.“
„Damit werde ich fertig“, erklärte Lillian. „Wie es scheint, habe ich nur Schwierigkeiten mit Tieren, die als Ganzes auf den Tisch kommen.“
„Natürlich, Liebes. Wir alle sind Barbaren, und Sie hatten ganz recht damit, von dem Kalbskopf abgestoßen zu sein. Ich mag ihn auch nicht. Um ehrlich zu sein, esse ich nur wenig Rindfleisch.“
„Dann sind Sie also Vegetarier?“, fragte Lillian,
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