Herbstfeuer
Ich wollte nur …“
„Ich werde mit Ihren Töchtern allein sprechen“, erklärte die Countess hoheitsvoll. „In genau zwei Stunden können Sie wiederkommen und sie abholen.“
„Jawohl, Mylady!“ Mercedes floh aus dem Zimmer.
Lillian räusperte sich, um einen plötzlichen Lachanfall zu kaschieren, und warf einen Blick zu Daisy, die sich ebenfalls um Haltung bemühte beim Anblick ihrer so rasch entlassenen Mutter.
„Was für ein unerfreuliches Geräusch“, bemerkte die Countess und sah Lillian stirnrunzelnd an. „Bitte nehmen Sie davon Abstand, das noch einmal zu tun.“
„Jawohl, Mylady“, entgegnete Lillian und bemühte sich nach Kräften um Bescheidenheit.
„Treten Sie näher“, befahl die Countess und blickte, als beide gehorchten, von einer zur anderen. „Gestern Abend habe ich Sie beobachtet, alle beide, und ich wurde Zeugin eines wahren Katalogs unangemessenen Verhaltens. Man sagte mir, dass ich in dieser Saison als Ihre Fürsprecherin fungieren soll – was mich in der Gewissheit bestärkt, dass mein Sohn entschlossen ist, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Fürsprecherin für ein paar missratene amerikanische Mädchen! Ich warne Sie, wenn Sie nicht jedes Wort beherzigen, das ich Ihnen sage, dann werde ich nicht eher ruhen, bis jede von Ihnen mit einem falschen kontinentalen Aristokraten verheiratet ist und in irgendeiner gottverlassenen Ecke Europas schmort.“
Lillian war entschieden beeindruckt. Was die Qualität von Drohungen betraf, so war das eine gute. Sie warf einen Blick auf Daisy und stellte fest, dass ihre Schwester erheblich ernster geworden war.
„Hinsetzen!“, befahl die Countess.
Sie folgten der Aufforderung, so schnell es ging, und setzten sich auf die Stühle, auf die mit einer juwelengeschmückten Hand gewiesen wurde. Die Countess streckte einen Arm zu dem kleinen Tisch neben dem Sofa aus und förderte ein Stück Pergament zutage, das großzügig mit kobaltblauer Tinte bedeckt war. „Ich habe eine Liste angefertigt“, erklärte sie ihnen und setzte sich ein winziges Pincenez auf ihre kurze Nasenspitze, „mit den Fehlern, die Sie beide gestern Abend begangen haben. Wir werden sie Punkt für Punkt durchgehen.“
„Wie kann die Liste so lang sein?“, fragte Daisy ungläubig. „Das Dinner dauerte nur vier Stunden – wie viele Fehler können wir denn in dieser Zeit gemacht haben?“
Während sie sie über den Rand des Pergaments hinweg mit regloser Miene ansah, entfaltete die Countess die Liste.
Wie bei einem Akkordeon öffnete sie sich weit und weiter und immer weiter, bis der untere Rand den Boden berührte.
„Verdammt“, murmelte Lillian.
Der Countess entging der Fluch nicht, und sie runzelte die Stirn, bis ihre Brauen sich berührten. „Wenn auf dem Pergament noch etwas Platz wäre“, erklärte sie Lillian, „würde ich noch ein wenig Vulgarität hinzufügen.“
Lillian unterdrückte einen Seufzer und ließ sich tiefer in den Stuhl sinken.
„Setzen Sie sich bitte gerade hin“, sagte die Countess. „Niemals lässt eine Dame zu, dass ihr Rücken eine Stuhllehne berührt. Nun beginnen wir mit der Unterweisung. Sie beide verfügen über die beklagenswerte Angewohnheit des Händeschüttelns. Es gilt die Regel, dass man einander nicht die Hände reicht, sondern nur den Kopf neigt, wenn man jemandem vorgestellt wird, außer die Vorstellung erfolgt zwischen zwei jungen Damen. Und da wir gerade bei den Verneigungen sind – niemals sollten Sie sich vor einem Gentleman verneigen, dem Sie nicht vorgestellt wurden, selbst wenn Sie ihn vom Sehen her gut kennen. Und auch nicht vor einem Gentleman, der im Haus eines Freundes ein paar Bemerkungen an Sie gerichtet hat, oder jedem anderen Gentleman, mit dem Sie kürzlich Konversation machten. Ein kurzer Wortwechsel bedeutet noch keine Bekanntschaft und muss daher nicht mit einer Verneigung gewürdigt werden.“
„Was, wenn der Gentleman Ihnen einen Dienst erwiesen hat?“, fragte Daisy. „Zum Beispiel einen heruntergefallenen Handschuh aufgehoben hat?“
„Dann danken Sie ihm, aber verneigen Sie sich in Zukunft nicht vor ihm, denn eine wirkliche Bekanntschaft hat sich nicht ergeben.“
„Das klingt ziemlich undankbar“, bemerkte Daisy.
Die Countess beachtete sie nicht. „Nun kommen wir zum Dinner. Nach dem ersten Glas Wein verlangen Sie kein weiteres. Wenn der Gastgeber während des Dinners die Weinkaraffe reichen lässt, so geschieht dies für die Gentlemen, nicht für die Damen.“ Sie
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