Herbstfrost
möglicherweise haben diese Auflösungserscheinungen schon mit
der Verhaftung Cermaks begonnen.«
»Möglicherweise«, wiederholte Vogt geringschätzig. »Vielleicht
erinnerst du dich gütigst daran, wer dich auf Cermak
aufmerksam gemacht hat.«
»Natürlich du. Aber Leopold Gruber hatte dich gebeten, uns
einzuschalten. Seine Bitte konntest du nicht ignorieren, wenn du dir den Rücken
freihalten wolltest. Und die Rettung Sarah Feldbachs könnte auch ein Präventivzug
gewesen sein. Könnte. Ich behaupte nicht, dass es sich tatsächlich so verhält.«
»Ich verstehe: die berühmte Flucht nach vorne«, höhnte Vogt. »Die
Sökos-Tarnung beginnt zu bröckeln, und ich, das Alpha-Tier, sichere mich durch
die Rettung Sarahs ab und stelle mir so ein Unbedenklichkeitszeugnis aus.«
»Wäre das denn so absurd?«, wies Jacobi seinen Sarkasmus zurück.
»Als SS -Offizier hast du es ja auch so gemacht,
wenn du den einen oder anderen Juden gerettet hast.«
»Das war jetzt aber tief unter der Gürtellinie.«
»Und? Kann man einen SS ler überhaupt
unter der Gürtellinie erwischen?«
Vogt zuckte mit den Schultern. »Bringt dich dein Zynismus auch nur
einen Schritt weiter?«
»Im Moment nicht, obwohl mir vor dem jetzt bekannten Hintergrund so
einiges recht seltsam vorkommt. Zum Beispiel, dass du rein zufällig zur
richtigen Zeit im selben Hotel wie Sarah Feldbach Gast warst.«
»Du weißt sehr gut, dass ich seit Jahren Stammgast im ›Grünen Baum‹
bin.«
»Okay. Aber warum du die drei Henkersknechte am Reedsee einfach
davongejagt hast, statt sie mit vorgehaltener Waffe ins Tal hinunter zu
geleiten, ist zumindest hinterfragenswert.«
»Ich hab das Richtige getan, das weißt du genau. Es wäre unmöglich
gewesen, drei junge Männer in diesem Gelände stundenlang in Schach zu halten.
Der Entschluss, sie entwischen zu lassen, war zugleich Sarahs und meine einzige
Rettung.«
»Das hab ich bis gestern auch gedacht. Aber durch dein Nahverhältnis
zur AIC haben sich die Perspektiven leider
verschoben.«
Vogt nippte an seinem Manhattan. »Was kann ich tun, um sie wieder
geradezurücken?«
»Helfen, den oder die wahren Schuldigen zu entlarven.«
Vogt zog die Brauen hoch. »Wie soll das denn gehen? Du zählst mich
doch zu den Hauptverdächtigen?«
»Damit müssen wir beide leben. Sollten deine Verwandten und du im
Sökos-Sumpf drinstecken, dann wirst du versuchen, euch zu schützen, und ich
werde es bemerken. Heißt der Alpha-Wolf hingegen Sorge oder Nilson, dann kann
ich auf dich zählen. Dann hast du nämlich erst recht Grund, deine Enkelin da
rauszuhalten.«
»Ich werde dir helfen, so gut ich kann«, sagte Vogt knapp. »Aber
vorher reden wir Klartext: Ein beurlaubter Gendarmerieoffizier kann unmöglich
Zugriff auf Stapo-Akten haben.«
Jacobi schwieg.
Nach einigen Augenblicken stand Vogt auf, ging in die Wohnung und
kam mit der Freitagsausgabe der »K. u. K.« zurück. Die Headline sprang einem in
dicken Balkenlettern sofort ins Auge: »Skandal in der Salzburger Exekutive!«
Darunter folgte eine Zusammenfassung des Artikels: »Sprengstoffanschlag auf
Gendarmerieoffizier bagatellisiert! Mittwochnacht entging Gendarmeriehauptmann
Oskar Jacobi, Chefermittler im Fall Cermak, nur durch Zufall einem
Sprengstoffanschlag in seiner Wohnung. Gestern wurde er von einem Vorgesetzten
gegen seinen Willen beurlaubt.«
Jacobi hatte die Zeitung schon beim Frühstück gelesen. In dem
Artikel brachte man die Cermak-Morde in unmittelbaren Zusammenhang mit den
Anschlägen auf Sarah Feldbach, Kurt Schremmer und ihn. Die Entscheidung, den
Topermittler des Referats 112 gerade jetzt zwangsweise zu beurlauben, war
mit beißendem Spott kommentiert worden.
Melanie hatte recht gehabt: Conte witterte den Knaller hinter den
dürren Infos, die er erhalten hatte. Sein Resümee, die Seniorenkiller in Cermaks
Umfeld könnten Mitglieder eines sinistren Geheimbunds sein, kam exakt zur
richtigen Zeit.
»Conte hat Waschhüttl zur Schnecke gemacht, ohne seinen Namen zu
nennen«, sagte Vogt, der Jacobi genau beobachtet hatte. »Nach diesem Artikel
konnte deine Beurlaubung nicht aufrechterhalten werden?«
Jacobi nickte. »Das stimmt. Ich bin seit heute Morgen wieder
offiziell mit dem Fall betraut.«
»Und Birnbaum hat dir die SOKO bewilligt?«
»Hat er«, bestätigte Jacobi lakonisch. Ihn fröstelte beim Gedanken
an das Telefongespräch, das er mit dem GÖS geführt hatte. Birnbaum war bereits informiert gewesen – vom Minister
persönlich, der wiederum
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