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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Gracher
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Wohnkultur kennengelernt hatte.
Früher war er oft hier gewesen, in den letzten Jahren waren die Besuche
seltener geworden, aber noch immer war ihm jeder Winkel der begrünten Terrasse
vertraut, ebenso die Rundumsicht auf eine der – laut Alexander von Humboldt –
schönsten Städte der Welt.
    An der Terrassenbar mixte er zwei Manhattan wie früher, wenn er zum
Schachspielen gekommen war. Trotzdem war heute alles anders. Die Entfremdung
zwischen ihnen war spürbar und schmerzte – ob man es wahrhaben wollte oder
nicht.
    Er setzte sich mit den Drinks zu Vogt an den Tisch. Beide vermieden
es, sich zuzuprosten, jeder nippte erst nach geraumer Zeit an seinem Glas.
    »Du hast meine Personalakte checken lassen«, begann Vogt. Es war
keine Frage, er wollte seine Vermutung nur bestätigt haben. Jacobi nickte und
betrachtete interessiert die Olive in seinem Whiskyglas.
    »Ja, hab ich. Sie ist 1955 gesäubert worden.« Dann folgte der
entscheidende Nachsatz: »Die Stapo hat darüber noch Unterlagen.«
    »Die Stapo hat dir Einblick gewährt?«, fragte Vogt ungläubig.
    »Auf Weisung von Birnbaum, ja.« Jacobi sah seinem ehemaligen Mentor
in die Augen.
    Vogt senkte den Blick. »Dann weißt du also, dass ich bei der SS war.«
    Wieder nickte Jacobi. »Bei der Waffen- SS ,
einer Wiking-Einheit. Man hat dich sogar zur Leibstandarte empfohlen. Das
spricht nicht gerade für dich, Bernd.« Er sprach den Vornamen sehr deutsch aus.
    Vogt blickte weiterhin auf die Tischplatte. »Unser Korps hat 1943
bei Demjansk eine Brücke so lange gehalten, bis die Reste der sechsten Luftwaffenfelddivision
den geordneten Rückzug antreten konnten. Deshalb hat man mich damals empfohlen,
nicht etwa, weil ich hinter den Linien Gräueltaten an Zivilisten begangen
habe.«
    »In unmittelbarer Nähe jener Brücke ist noch während des Krieges ein
Massengrab entdeckt worden. Fünfzig Genickschüsse. Und sag jetzt nicht, die
Russen waren es. Die waren es nämlich nicht!«
    »Sag ich ja gar nicht«, meinte Vogt gelassen. »Aber wir waren es
genauso wenig. Außer den Wiking-Einheiten waren damals auch andere Totenkopfverbände
in der Gegend. Übrigens bin ich in dieser Sache schon vor Jahrzehnten
einvernommen und freigesprochen worden.«
    »Wie auch im Werwolf-Prozess 1946, nicht wahr?«
    »So ist es. Damals wurde ich von einer Nachbarin meiner Eltern
denunziert, ich hätte einem hohen SS -Offizier zur
Flucht nach Übersee verholfen. Alles erlogen. Ich hatte nur einem Kameraden,
der nicht einmal bei der SS war, eine Zeit lang
Unterschlupf gewährt.«
    »Du selbst bist in den ersten Nachkriegsmonaten ebenso unauffindbar
gewesen.«
    »Ich hatte mich auf einer Alm im Salzkammergut versteckt. Wollte den
Entnazifizierungslagern entgehen.«
    »Aber dann wurdest du plötzlich entlastet und rehabilitiert. Warum?«
    »Ich habe einigen Leuten während des Krieges einen Gefallen getan.
In der Zeit danach revanchierten sie sich. Sie haben meinen Eltern geschrieben
und sich nach mir erkundigt. So kam der erneute Kontakt zustande. Als sie
erfuhren, dass ich in Schwierigkeiten steckte, haben sie sich für mich
verwendet.«
    »Waren es Juden?«
    »Ja.«
    »Du hast ihnen doch nicht etwa das Leben gerettet?«
    »Du kannst dir deine Süffisanz ruhig sparen. Sagen wir mal so, ich
habe weggeschaut, als sie sich selbst gerettet haben.«
    »Ich dachte, du warst in keinem Lager?«
    »Das stimmt auch. Aber im vorletzten Kriegsjahr hat unsre Einheit
hin und wieder Deportiertentransporte zusammenstellen müssen. Diese Leute hat
man dann –«
    »Diese Leute hat man nicht selten der Einfachheit halber gleich
liquidiert, wenn der Transport zu viel Aufwand erforderte oder umständehalber
nicht möglich war«, sagte Jacobi. Er wusste, wovon er sprach.
    Vogt sah ihm ruhig in die Augen. »Solche Dinge sind geschehen, aber
nicht in unsrer Staffel. Die jüdische Familie, von der hier die Rede ist,
bestand aus einem Rechtsanwalt, seiner Frau und zwei erwachsenen Töchtern. Sie
wurden nicht, wie vorgesehen, zum Weitertransport nach Treblinka in einen
Viehwaggon gesteckt, sondern bestiegen in Riga einen schwedischen Frachter,
zusammen mit einigen anderen, die sich noch nicht aufgegeben hatten. Ich weiß,
was du fragen willst: Wie konnte ich manche fliehen lassen und andere nicht?
Die Entscheidung dafür oder dagegen war einfach: Es kam auf den
Ermessensspielraum an. Darauf, wie viel Großzügigkeit die einzelne Situation
vertrug. Mehr sag ich dazu nicht.«
    In der nun folgenden Gesprächspause

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