Herbstfrost
entstand eine Atmosphäre fast
greifbarer Feindseligkeit. Jacobi saß nicht mehr dem ehemaligen Förderer und
Freund gegenüber, sondern einem Angehörigen jener Einheiten, die seinen
Großvater ins Gas geschickt hatten.
»Bist du deshalb früher gekommen, um mich auf meine
Nazivergangenheit hin abzuklopfen?«, fragte Vogt, weniger aus Interesse,
sondern um ihre Sprachlosigkeit zu überwinden.
»Du hast mit der SS angefangen«, hielt
Jacobi dagegen. »Außerdem hab ich geglaubt, wir waren einmal so etwas wie
Freunde. Warum hast du nie ein Wort über deine SS -Zugehörigkeit
verloren, wenn du nicht schuldig geworden bist?«
»Ich habe nicht behauptet, nicht schuldig geworden zu sein. Nur
Narren oder Märtyrer bleiben im Krieg schuldlos. Ich habe mich bemüht – nein,
das ist nicht das richtige Wort. Ich habe meinen Teil der Schuld gering
gehalten, wenn es sich leicht machen ließ. Das trifft es wohl eher. Und was
dich angeht: Wäre dir in irgendeiner Weise gedient gewesen, wenn du über diesen
Teil meines Lebens Bescheid gewusst hättest? Dass dein Großvater in Mauthausen
umgekommen ist, das war mir bekannt, als du bei uns angefangen hast. Hätte ich
dich über meine Vergangenheit aufgeklärt, hätte das immer zwischen uns
gestanden, und unsre Freundschaft wäre zu Ende gewesen, ehe sie begonnen hätte.
Also habe ich geschwiegen.«
»Und was ist mit Sarah Feldbach? Sie und du! Das ist doch grotesk!
Ich nehme an, sie weiß nichts von deiner Vergangenheit?«
»Stimmt, sie hat keine Ahnung, dass ich bei der SS war«, bestätigte Vogt. »Und ich ersuche dich, es mir
zu überlassen, sie darüber aufzuklären. Siehst es ja an dir, wie es einem auf
den Magen schlägt, wenn man gezwungen ist, einen Freund vor diesem Hintergrund
neu zu beurteilen.«
»Versprechen kann ich nichts, aber vorläufig werde ich mich
zurückhalten. Hoffentlich weißt du das zu würdigen. Immerhin bist du ein naher
Verwandter von zwei Verdächtigen.«
»Also verdächtigst du uns doch, obwohl du es vorhin bestritten hast.
Und wie hast du dir meine Würdigung deiner Zurückhaltung vorgestellt?« Vogt
hatte von Anfang an gewusst, was Jacobi hören wollte.
»Indem du mir ein paar Auskünfte über leitende Angestellte der AIC gibst. Und genau das habe ich vorhin auch gesagt,
nicht, dass ich dich verdächtige.«
»Willst du was Spezielles hören?«
»Bernd, du kennst das Spiel besser als ich. Ich will alles hören.
Alles, was dir einfällt. Fangen wir mit deinem Schwiegersohn Julius Rottenstein
an.«
»Ihr seid euch schon einmal begegnet. Er hat damals Phryne bei mir
abgeholt. Sie hatte vorher ein Glas Orangensaft über deine Jeans gegossen.«
»Ich hab ihn ein Mal gesehen, ja, aber das war’s auch schon. Sogar
den Firmennamen hatte ich wieder vergessen.«
Vogt schwieg, blickte den langjährigen Schachpartner nur abwägend
an, wie er es immer getan hatte, wenn er mit einem unorthodoxen Zug rechnete.
»Julius war noch vor Jahren ebenso tüchtig wie ehrgeizig«, begann er
schließlich vorsichtig. Wie ein Fuchs, der um eine Falle herumstreicht, schoss
es Jacobi durch den Kopf. »Gemeinsam mit Sorge und Nilson hat er die hiesige AIC -Filiale aufgebaut und in relativ kurzer Zeit
beachtliche Marktanteile gewonnen. In der Branche nannte man ihn ›Midas‹. Jeder
Coup schien ihm zu gelingen, was er anfasste, verwandelte sich in absehbarer
Zeit zu Gold.«
»Und dann?« Die Eiswürfel im Whiskyglas schienen Jacobis ungeteilte
Aufmerksamkeit zu genießen.
»Dann verunglückte Livia.« Über Vogts Blick legte sich ein Schleier.
»Man kann in einen Menschen nicht hineinsehen« – wie wahr!, dachte Jacobi –,
»aber Julius scheint sie wirklich geliebt zu haben, soweit ein Egomane wie er
zur Liebe überhaupt fähig ist. Jedenfalls war er nach ihrem Tod nicht mehr
derselbe. So wie ich übrigens auch. Schon früher hat Julius gern einen gehoben,
aber nun begann er exzessiv zu saufen. Heute kann er von Glück sagen, dass er
einen so tüchtigen Vize hat wie Sorge.«
»Livia ist vor fünf Jahren verunglückt«, sagte Jacobi. Er hatte Vogt
und dessen Angehörige damals auf den Friedhof begleitet. Die Erwähnung der fünf
Jahre war eine indirekte Provokation, der Vogt nicht ausweichen konnte.
»Und etwa zur selben Zeit haben die Sökos begonnen, ihre makabre
Organisation aufzuziehen. Das meinst du doch, oder?«, fragte er.
Jacobi nickte, äußerte sich aber nicht dazu.
»Und? Welchen Schluss ziehst du daraus?«
»Denselben wie du, vorausgesetzt, du
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