Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Frisieren hat sie mir heute Morgen mit
den Haarnadeln wehgetan. Wenn ich nicht wüsste, dass sie ein liebes Mädchen ist,
würde ich denken, sie hat es mit Absicht getan. Ich konnte ihre Augen im Spiegel
sehen, als sie sich entschuldigte. Sie sah überaus trotzig aus, und ihre Blicke
straften ihre freundlichen Worte Hohn. Wenn ich darüber nachdenke, ist sie schon
seit mehreren Wochen fahrig und verträumt. Ein paarmal hat sie meine Kleider nicht
ordentlich gerichtet, meinen Frisiertisch nicht aufgeräumt und beim Bügeln die Spitze
von meinem Morgenmantel versengt.
Das hat mir bisher nicht viel ausgemacht, denn ich habe gedacht,
dass sie vielleicht verliebt und deshalb ein wenig unaufmerksam ist. Dafür habe
ich Verständnis, weil ich selbst fortwährend an meinen Friedrich denke und Mutter
mir dann sagt, dass ich abwesend bin und ihr gar nicht zuhöre.
Aber heute sah sie nicht verliebt, sondern verbittert aus,
und ihre Entschuldigung klang nicht ehrlich. Ob sie unzufrieden bei mir ist? Vielleicht
hat sie Sehnsucht nach ihrem Zuhause, und ich sollte sie für einige Tage zu ihrer
Familie schicken. In der Zeit kann mir Elsi die Locken machen, auch wenn Mutter
ihr Mädchen nur schwer entbehren kann. Oder ich frisiere mich alleine. Sophie und
ich haben einmal Frisuren ausprobiert. Wir waren dabei ziemlich albern. Meine Freundin
gestand mir lachend, dass sie viel lieber kurze Haare hätte. Dass sei viel praktischer
als unsere komplizierten Hochsteckfrisuren. Für freche neue Ideen ist Sophie immer
zu haben. Ich hingegen würde mich gewiss nicht von meinen langen Haaren trennen.
Wenn Friedrich
das nächste Mal zu Besuch kommt, werde ich ihn fragen, was ich mit Änni machen soll.
Wenn wir verheiratet sind, wird er unsere Dienstboten auswählen. Wenn Änni Friedrich
nicht zusagt, kann ich sie auf keinen Fall mitnehmen.
Ich weiß gar nicht, warum Augusta
dermaßen zurückhaltend ist. Warum fragt sie ihre Änni nicht einfach, was mit ihr
los ist? Schließlich ist sie ihre Chefin. Wahrscheinlich hat das ihre Mutter verboten.
Nach dem Motto: Man spricht nicht mit Dienstboten über deren Befindlichkeiten, oder
so. Ich bin auf einmal richtig froh, dass ich in der heutigen Zeit lebe, auch wenn
das manchmal ebenfalls kompliziert ist.
Vicki schläft
tief und fest. Ich habe mich aus ihrem Zimmer geschlichen und schaue immer mal nach
ihr. Bisher hat sie mich nicht gebraucht. So kann ich ohne Gewissensbisse ein bisschen
in Augustas Tagebuch schmökern und mich nachher neben Vicki legen, wenn ich selbst
müde bin.
Das Lesen
der alten Schrift fällt mir mittlerweile viel leichter. Ich muss zugeben, dass ich
die alte Geschichte richtig spannend finde, selbst wenn ich mir wie ein Eindringling
vorkomme, wie jemand, der heimlich durch ein Schlüsselloch guckt und an der Türe
lauscht. Das sind schließlich Augustas ganz private Notizen und irgendwie fühlt
es sich so an, als hätte sie das Tagebuch gestern erst geschrieben. Dabei muss sie
schon vor Ewigkeiten verstorben sein. Ich werde mal Vicki fragen, vermute aber,
dass sie außer ihrem blöden Schauermärchen nichts Erhellendes beizusteuern hat.
Klar, Augustas Einstellung zu ihrem zukünftigen Ehemann ist aus heutiger Sicht echt
gewöhnungsbedürftig, genauso wie ihr unglaublicher Respekt vor den korsettartig
strengen Regeln ihrer allmächtigen Mutter. Zum Glück hat sich in diesem Punkt wirklich
viel verändert in den letzten 100 Jahren.
Wie auch
immer, Augusta ist ein Kind ihrer Zeit, und ich finde sie wunderbar.
Deshalb will ich auch unbedingt wissen, wie es weitergeht,
und muss meine Bedenken, ob ich spionieren darf, wohl oder übel ignorieren.
Wie sie den ganzen Tag mit offenen Augen von ihrem Liebsten
träumt, kann ich total gut nachvollziehen. Da bin ich kein bisschen anders. Aber
was ist mit Änni los? Ob Augustas Mutter sich noch von einer Maschine in einen lebendigen
Menschen verwandeln wird? Und vor allem: Warum benimmt sich dieser seltsame Friedrich
wie ein Holzklotz?
*
Heute habe ich das Kleid fertig
genäht. Die 10.000 Euro dafür habe ich übrigens wirklich verdient. Nicht dass ich
neuerdings geldgierig wäre. Das wirklich nicht. Aber meine Nerven sind ruiniert,
und ich brauche dringend Geld für einen Berg Schokoriegel. Vier Tage habe ich an
dem Kleid gearbeitet (halbe Nächte inklusive) und in jeder dieser endlos langen
Stunden hockte Frau Hofmann neben mir, um das Fortschreiten der Näharbeiten zu überwachen.
Hätte sie still dagesessen und
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