Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Welt.
Auf diese
Weise habe ich gelernt, dass aus dem Schlechten stets das Gute erwächst, wie auch
nach dem Regen immer wieder die Sonne scheint. Seit dieser Zeit habe ich keine Angst
mehr vor den Prüfungen, die das Leben für mich bereithält, denn ich glaube fest
daran, dass am Ende immer alles gut und richtig wird.
Wäre ich
nicht krank geworden, hätte ich meinen lieben Friedrich niemals kennengelernt.
Weil ich
ihn innig liebe, habe ich ihm verziehen, dass er heute sehr schnell wieder ging,
kaum mehr als drei Worte an mich gerichtet und unsere geplante Ausfahrt scheinbar
vollkommen vergessen hat. Mutter hat mir beigebracht, meine Leidenschaft zu zügeln.
Nur gewöhnliche Leute lassen sich anmerken, wie sie empfinden, sagt sie immer. Eine
junge Dame aus gutem Hause vermeidet Gemütsbewegung in der Öffentlichkeit und ebenso
in ihrem Heim. Sonst erweisen ihr weder die Dienstboten noch der Ehemann oder die
gemeinsamen Kinder den notwendigen Respekt.
Dessen eingedenk
lächelte ich, als Friedrich ging. Obgleich ich im Innern traurig war. Er wird seine
Gründe haben. Vielleicht plagen ihn Sorgen. Ich will nicht töricht sein. Wenn man
liebt, dann ist man stark.
Augusta tut
mir ein wenig leid. Sie ist besessen davon, alles richtigzumachen, sodass sie nicht
einmal ihrem Tagebuch anvertraut, wie scheiße sie sich fühlt. Ich weiß gar nicht,
was sie an diesem Friedrich eigentlich toll findet. Er soll gefälligst mit ihr spazieren
fahren, wenn sie sich das so wünscht. Aber außer Tee trinken und Händchen halten
spielt sich scheinbar gar nichts zwischen den beiden ab. Sie liebt ihn aufrichtig,
doch er scheint mir ein ziemlicher Blödmann zu sein. Vielleicht will er sie gar
nicht aus Liebe, sondern nur aus eigennützigen Gründen heiraten. Zum Beispiel, weil
er kein Geld mehr hat und sie ganz viel. Immerhin ist es Augustas Vater, der das
Haus für das junge Paar bauen lässt.
Na ja, vielleicht
lehne ich mich da ein wenig zu weit aus dem Fenster. Noch ist nichts bewiesen. Ich
muss abwarten, was sie auf den nächsten Seiten schreibt. Aber wäre Augusta meine
Freundin, würde ich sie kräftig schütteln, damit sie den Typen mal gründlich unter
die Lupe nimmt.
Allerdings,
noch mehr als ihr hölzerner Verlobter nervt mich Augustas Mutter! Keine Gefühle
zeigen. Pah! Wie soll man denn existieren, ohne Gefühle zu zeigen? Das geht doch
gar nicht. Seltsame Erziehung war das damals.
In diesem
Moment klingelt mein Handy und Basti ist dran.
»Weißt du
was? Ich liebe dich«, sage ich zur Begrüßung.
»Ich dich
auch, Rosa. Und wie.«
Sein Lachen
ist warm. Gefühle zeigen ist großartig! Ich könnte nicht darauf verzichten.
»Ich komme
schon morgen Abend wieder«, sagt Basti. »Bist du zu Hause?«
»Na klar«,
antworte ich. »Ist deine Tagung eher zu Ende?«
»Meine Tagung?«
»Na, ich
dachte du wärst …« Jetzt bin ich ganz verwirrt.
»Ach so,
die Tagung«, sagt er aufgekratzt. »Sorry, ich bin ein bisschen müde heute. Ja, ja,
die ist morgen vorbei.«
Wow, mein
Schatz muss ziemlich müde sein, wenn er schon vergessen hat, weshalb er nach Hamburg
gefahren ist. Seltsam. Als ich auflege, habe ich ein komisches Gefühl im Bauch.
Ich komme allerdings nicht dazu, darüber nachzudenken, denn plötzlich höre ich die
arme Vicki heftig würgen. Der Erdbeerkuchen ist ihr offensichtlich nicht bekommen.
Ganz grün im Gesicht wankt sie aus dem Badezimmer.
»Soll ich
dir Tee machen?«
Sie nickt.
»Und ruf bitte Dani an, okay? Sag ihm, dass er heute nicht kommen soll.«
»Er will
sich doch bestimmt um dich kümmern, meinst du nicht?«
»Nee, lass
mal. Ich wollte heute mit ihm und einem seiner Kunden essen gehen.«
Na, das
sollte sie in der Tat bleiben lassen.
»Kannst
du bei mir schlafen?«, fragt Vicki, als ich ihr den Tee bringe.
Aber gerne. Wer sich mies fühlt, braucht schließlich Zuwendung.
Was haben die früheren von Liesens eigentlich gemacht, wenn
sie krank waren? Wahrscheinlich durften sie das auch nicht zeigen. Wie erbricht
man sich eigentlich vornehm? Oder hat unauffällig Fieber? Also, ich würde das nicht
hinbekommen. Ich kann nicht mal ein Gähnen unterdrücken!
Ich streiche Vicki die verschwitzten Haare aus der Stirn
und summe ihr ›Guten Abend, gut’ Nacht‹ vor, bis sie ganz ruhig atmet.
»Ich hab
dich lieb, Rosa«, murmelt sie im Halbschlaf und kuschelt sich an mich. Sie kann
Gefühle zeigen. Welch ein Glück!
21. September
1912
Änni
ist sehr zerstreut in letzter Zeit. Beim
Weitere Kostenlose Bücher