Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
erwischt. Ich weiß gar nichts. Nicht einmal, ob ich überhaupt
eine Urgroßtante habe. Ich muss mal Oma fragen.
Andererseits
habe ich keine Ahnengalerie, keine riesige Bibliothek mit alten Tagebüchern, weder
ein edles ›von‹ im Namen noch Häuser in Lichterfelde.
»Wenn ich
ein Gemälde von meiner Urgroßtante hätte wie du, und sie mich jeden Tag im Flur
angucken würde, dann würde ich mich für sie interessieren«, verteidige ich mich
also.
»Ich weiß,
dass du jetzt gleich wieder die Krise kriegst«, sagt Vicki lächelnd. »Mein Vater
hat mir allen Ernstes erzählt, dass die olle Au…, ich meine, dass Augusta lebendig
begraben wurde. Und dass sie ganz jung war, als es passierte.«
»Ach, Vicki
…«, stöhne ich. »Das ist doch Käse.« Muss sie schon wieder davon anfangen?
»Kann sein«,
antwortete Vicki. »Glaub mir wenigstens, dass die Geschichte nicht auf meinem Mist
gewachsen ist. Ehrlich! Und mein Vater wird sie sich nicht ausgedacht haben. Warum
sollte er?«
Mich überzieht
eine Gänsehaut. Wenn das wirklich stimmt? Oh mein Gott!
Ich habe
Augusta, obwohl ich erst wenige Seiten ihres Tagebuchs gelesen habe, richtiggehend
ins Herz geschlossen. Und etwas derart Schlimmes, das wünscht man nicht einmal seinem
Feind. Ob es Friedrich war? Mein Gefühl hat mir von Anfang an gesagt, dass ihm Augusta
nicht halb so viel bedeutet wie er ihr. Zuerst hat er wohl so getan, als ob er sie
lieben würde, aber nur bis sie verheiratet waren. Denn nun hatte er, was er wollte
– ihr Geld. Dann hat er sie lebendig in eine Gruft gesperrt und behauptet, sie sei
tot. Klingt krass, wäre aber möglich. Also, wenn man jetzt mal vom Allerschlimmsten
ausgeht.
»Lass doch
die arme Zwiebel in Ruhe«, sagt Vicki und hält meine Hand fest. »Du bringst sie
ja um.«
Ich betrachte
das Häufchen Zwiebelbrei auf meinem Brettchen. »Ich bin richtig sauer auf diesen
blöden Friedrich«, knurre ich. »Wahrscheinlich ist er an allem schuld!«
»Wovon redest
du?«
»Von deinem
angeheirateten Urgroßonkel. Friedrich von Oranienbaum. Er hat Augusta das
wahrscheinlich angetan.« Tränen laufen meine Wangen hinunter.
»Heulst
du etwa wegen Augusta?« Vicki starrt mich entgeistert an.
»Natürlich
nicht«, sage ich, ziehe die Nase hoch und zeige meiner Freundin einen Vogel. »Ich
habe doch gerade die Zwiebel umgebracht.«
»Rosa, du
bist süß!«, sagt Vicki in einem Ton, als würde sie mir nicht glauben. »Du musst
dich immer in irgendetwas hineinsteigern. Erst waren es chinesische Glückskekse,
jetzt sind es meine Urahnen, die dich verfolgen. Ich meine, die Sache ist eine halbe
Ewigkeit her. Selbst wenn damals etwas Schreckliches passiert ist, kannst du es
nicht mehr ändern.«
»Das weiß
ich selbst«, gebe ich zu.
Ich mag
dieses ›Kann man nicht mehr ändern‹-Totschlagargument trotzdem nicht. Es dient einfach
zu oft als Rechtfertigung für Leute, die keinen Bock haben, einen Fehler zuzugeben
und sich zu entschuldigen.
»Warum ist dir das alles egal?«, frage ich also, obwohl ich
weiß, das Vicki jetzt gleich genervt von mir sein wird. Was immer Augusta passiert
ist, meine Freundin kann nun wirklich nichts dafür.
Prompt rollt sie die Augen. »Mensch, Rosa. Das ist eine alte
Familienlegende. Ich bin damit aufgewachsen. Wie es halt in jeder Familie Geschichten
gibt, die man sich erzählt. Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich darüber nachgedacht.«
»Dann wird es Zeit«, brumme ich.
»Okay«,
gibt Vicki nach. »Beschäftigen wir uns also damit. Du liest das Tagebuch und erzählst
mir, was du herausgefunden hast. Wahrscheinlich gibst du sowieso keine Ruhe, bis
du alles weißt. In der Bibliothek findest du noch jede Menge anderen Kram. Fotoalben,
Jahrbücher … Tu dir keinen Zwang an.«
»Okay.«
Ich nicke und lasse sie fürs Erste in Ruhe.
Am liebsten
würde ich mich sofort auf das Tagebuch stürzen und weiterlesen.
Vicki wird
sich wundern. Ich werde ganz bestimmt herausfinden, ob an der Geschichte von Augustas
tragischem Tod etwas dran ist oder nicht. Vielleicht ist alles ganz anders und sie
hat den doofen Friedrich durchschaut und davongejagt. Und sich dann die Haare abschneiden
lassen und einen verrückten Künstler geheiratet. Das wäre eine tolle Wendung und
Vicki würde staunen, was sie für eine starke Urgroßtante hat.
Heute und
morgen werde ich wohl nicht mehr zum Lesen kommen. Schließlich ist Basti hier und
er ist mir, bei aller Liebe zu Vickis verblichener Verwandtschaft, dann doch wichtiger.
Kurz
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