Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
der Mann die
Schnauze voll hat von der Warterei auf meine Entscheidung.
»Ich … ich
wollte gerade nach Hause«, versuche ich es trotzdem und presse meine Handtasche
wie einen Schutzschild vor meinen Bauch.
Leo steht
direkt vor mir. Wir schauen uns in die Augen.
»Zieh es
an!«, befiehlt er leise. Seine Stimme klingt rau.
»Was?«,
hauche ich. »Was meinst du?«
Er nickt
leicht in Richtung Schneiderpuppe. Rosanas Kleid. »Zieh es an«, wiederholt er. »Jetzt.«
»Okay«,
antworte ich leise.
Ich fühle
mich ferngesteuert. Was geschieht hier? Ich weiß es noch nicht, aber insgeheim habe
ich natürlich davon geträumt, das Kleid einmal selbst zu tragen. Ich habe nur nicht
gewagt, es tatsächlich anzuziehen.
Vorsichtig
nehme ich es von der Puppe. Es fühlt sich leicht an, weich und bauschig – ein verführerischer
Traum aus Tüll und Spitze.
Hinter dem
Umkleidevorhang lege ich langsam meine Klamotten ab. Leo kann ruhig warten. Ich
werde jetzt das schönste Kleid der Welt tragen. Diesen Augenblick will ich genießen.
Allein.
Kurz überlege
ich, meinen BH anzubehalten. Aber das würde die besondere Wirkung zerstören. Ich
will das Kleid spüren. Dazu gehört, dass die Brüste einzig und allein von etwas
Spitze bedeckt werden. Kurzerhand ziehe ich auch meinen Slip aus und stehe ganz
nackt vor dem Spiegel.
Dann schlüpfe
ich in das Kleid. Es ist ein wunderbarer, beinahe magischer Moment, denn der Stoff
schmiegt sich perfekt an meinen Körper, als hätte ich ihn für mich selbst zugeschnitten.
Es gelingt mir sogar, allein den schmalen Reißverschluss im Rücken des Kleides zu
schließen. Meine Haare, die ich bei der Arbeit immer hochgesteckt oder zum Pferdeschwanz
gebunden trage, öffne ich und lasse sie über meine Schulten fallen. Ich bin nicht
Rosana mit dem glatten Ebenholzhaar. Ich bin Rosa, und ich will das Kleid auf meine
Weise tragen.
In dem Augenblick,
als ich hinter dem Vorhang hervortrete, weiß ich, dass alles passieren kann. Leo
hält den Atem an, als er mich sieht. Ich lächle und gehe auf ihn zu, doch ich schaue
dabei bewusst auf den Boden.
Seine Augen
… es sind seine Augen, die mich sonst schmelzen lassen wie eine Schneeflocke im
Feuer.
»Komm mit«,
sagt er und nimmt meine Hand.
»Wohin wollen
wir?«, wundere ich mich.
Er lächelt
nur und ich folge ihm durch die mir unterdessen gut bekannten langen Gänge. Nach
einer Weile erkenne ich, wohin wir gehen. Es ist totenstill und bis auf die Notbeleuchtung
finster im Haus.
»Warte hier«,
sagt Leo und lässt mich im Dunkeln stehen.
Er hat mich
auf die Bühne gebracht. Ich bin jetzt allein, fröstele ein wenig in dem hauchdünnen
Kleid. Der Zuschauerraum verschwindet im Dunkeln, und ich kann seine Größe und Weite
nur erahnen. Langsam nimmt mich die besondere Atmosphäre gefangen.
Das hier
ist das Theater, ein Ort der Träume, der perfekten Illusion, und ich stehe mittendrin.
Ich atme
tief durch und bin auf einmal ganz bei mir.
Dieser Moment,
Rosa, kommt niemals wieder.
Was immer
gleich gespielt werden wird. Es ist meine Geschichte. Ein unwiederbringlicher Augenblick
meines Lebens – und verdammt, ich werde ihn genießen.
Da trifft
mich das Licht eines Scheinwerfers. Für einen Moment bin ich geblendet, irritiert.
Doch dann liebe ich es. Mir wird fast schwindlig vor Glück. Ich fühle mich schön
wie Venus, die Göttin der Liebe, die aus dem Schaum des Meeres geboren wird.
Die Musik
kommt nicht mehr unerwartet. Ich erkenne sie bereits an den ersten Takten. Es ist
Rosana und Orans Liebeslied. Am Ende des Musicals hat die junge Frau längst erkannt,
dass der Fürst ihr etwas bedeutet. Er hat sie unter Einsatz seines eigenen Lebens
vor Bens feigem Mordanschlag gerettet, ist selbst dabei verletzt worden. Nun treffen
sie sich auf einer Lichtung im Wald, wo sie sich ihre Liebe gestehen. Es geht um
alles. Und Rosana weiß das. Wird sie gehen, zurück in ihre Welt? Oder bei ihm bleiben?
Was immer sie heute tut und wie sie entscheidet, es wird ihr ganzes Leben verändern,
so oder so.
Schwer atmend
stehe ich im Scheinwerferlicht und erwarte Leo. Er wird gleich bei mir sein. Das
spüre ich. Sicher werde ich das, was gleich geschehen wird, schon bald bereuen.
Doch jetzt
will ich leicht sein. Einfach leben! Nur für einen Augenblick von der Ewigkeit.
Da ist Leo
hinter mir, legt seine Hände auf meine Hüften und dreht mich sanft zu sich um. Seine
Augen! Einen Moment lang kann ich mitten in sein Herz hineinsehen. Nichts und niemand
auf der Welt
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