Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
diesem Moment wird mir klar, dass ich zu weit
gegangen bin. Ihre Situation ist mit meiner überhaupt nicht zu vergleichen und es
ist auch nicht richtig, von mir abzulenken und hysterisch herumzuschreien.
Da geht
die Tür zu ihrem Zimmer auf und Daniel kommt heraus. Ein einziger Blick in sein
angespanntes Gesicht und seine ungläubig aufgerissenen Augen genügt mir, um zu kapieren,
was ich gerade angerichtet habe.
Sie hat
es ihm überhaupt noch nicht gesagt!
»Vicki?«
Er schaut sie zweifelnd an.
»Es ist
wahr«, haucht sie und fängt an zu zittern.
Nie zuvor
habe ich meine Freundin derart zerbrechlich gesehen.
»Wie lange
weißt du es schon?«
»Kurz nach
der Hochzeit …«
Daniels
weiche Züge verhärten sich immer mehr. Er presst die Kiefer zusammen und starrt
seine Frau fassungslos an. Dann schnappt er sich seine Jacke und geht.
Wir stehen
wie angewurzelt und rühren uns nicht. Niemand macht den Versuch, ihn aufzuhalten.
Wie die Haustür knallend ins Schloss fällt, das ist das schrecklichste, endgültigste
Geräusch, das ich je gehört habe.
Als er weg
ist, stürzt Vicki heulend in ihr Zimmer. Lila schaut mich kurz verzweifelt an und
läuft ihr dann hinterher.
Ich bleibe
im Flur stehen, alleine, mit 10.000 Problemen, und begreife langsam, was ich in
den letzten beiden Tagen, ohne es zu wollen, alles falsch gemacht habe.
Ich schleppe
mich in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Auf dem Tisch leuchtet ein schöner
bunter Asternstrauß. Vicki hat einen tollen Geschmack bei Blumen. Daneben steht
eine große Metalldose.
Mir laufen
unentwegt Tränen über das Gesicht.
Halb blind
setze ich mich an den Tisch. Neben der Vase liegt ein Blatt Papier. Eine Kinderzeichnung.
Ein schwarzhaariger Mann ist darauf zu sehen, eine blonde Frau und in ihrer Mitte
ein kleines Mädchen mit kurzen Zöpfen. Die Großen halten das Kind an den Händen.
Um sie herum schweben lauter kleine rote Herzen.
›Papa –
Juli – Rosa‹, ist mit krakeliger Kinderschrift darunter geschrieben. ›Die Keckse
in der dose sind fon Juli für Rosa gebaken.‹
Diese paar
Wörter machen mich fertig. Mehr als alle meine Schuld, mehr als alles, was andere
und ich selbst mir vorwerfen können, überrumpeln mich diese kleinen, unschuldigen
Zeilen. Ich habe keine Ahnung, ob ich nach dem letzten Wochenende jemals wieder
glücklich sein darf.
10. Kapitel
Herz aus Glas
Wenn man bei Google ›lebendig begraben‹
eingibt, erhält man etwa 127.000 Ergebnisse in 0,1 Sekunden. Ein Blick auf die ersten
Treffer, samt einigen Bildern, genügt, einem den Rest des Tages zu vermiesen.
Der gestrige
Tag hingegen war für mich bereits verdorben, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Gestern Abend konnte ich mich einfach
nicht entschließen, in Vickis Zimmer zu gehen und mich bei ihr zu entschuldigen.
Ich wollte es tun, schlich wie ein Tiger im Käfig um ihre Tür herum. Ich hörte,
wie sie mit Lila redete.
Aber ich
war zu feige, zu ihr zu gehen. Ich hatte viel zu große Angst, dass sie mich gleich
wieder hinauswerfen würde. Also beschloss ich, ein wenig abzuwarten. Vielleicht
würde es Lila gelingen, Vicki milder zu stimmen. Meine Schwester war völlig geschafft,
als sie irgendwann gegen Mitternacht nach Hause fuhr.
» Du musst dich jetzt um Vicki kümmern«, sagte sie. »Sie ist fix und fertig.«
»Sie wird
mich aber nicht sehen wollen«, jammerte ich, hoffte jedoch insgeheim, Lila würde
meine Bedenken zerstreuen.
Keine Chance!
»Ich glaube
nicht, dass sie einen Luftsprung vor Freude macht, wenn sie dich sieht«, sagte Lila
und streute noch etwas Salz in meine Wunden. »Aber du musst trotzdem zu ihr gehen.
Ich meine, wem verdankt denn Vicki ihren erbarmungswürdigen Zustand?«
Eigentlich
war es gar nicht nötig gewesen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Das hatte
ich sowieso. Und nicht nur wegen Vicki. Da waren ja auch noch Daniel, natürlich
Basti, die kleine Julia – sie alle hatte ich an diesem Wochenende unglücklich gemacht.
Es war kein einzelner Brandherd, gegen den ich kämpfte. Nein, es war ein gewaltiger
Waldbrand. Da könnte ich hundert Tage heulen. Es würde ihn nicht löschen.
Und ich
begriff, dass Weinen in diesem Fall niemandem von uns nutzen würde.
Mein Handy
piepste.
›Vermisse
dich jetzt schon. Dein Leo‹
Das war
die andere Seite. Ich war glücklich. Total verliebt. Im siebten Himmel. Durfte ich
das überhaupt sein? Nach all dem, was ich angerichtet hatte?
Ich ging
an diesem Abend
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