Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Pah! Das konnte sie haben. Ich würde zu Oma ziehen für eine Weile
oder zu Lila. Da könnte sie anrufen und mich nett bitten, dass ich zurückkommen
soll.
Ich holte
meinen Koffer aus der Kammer und warf wahllos Klamotten hinein. Die ganze Zeit lauschte
ich, ob Vicki kommen und mir sagen würde, dass sie es nicht so gemeint hatte. Doch
sie hatte sich in ihrem Zimmer verschanzt und ließ sich nicht blicken.
Nachdem
ich mehr schlecht als recht gepackt und mich ein wenig geschminkt hatte, polterte
ich laut im Flur herum.
Jetzt, Vicki,
jetzt kannst du kommen und mir sagen, dass ich bleiben soll.
»Ich lege
den Wohnungsschlüssel auf den Küchentisch«, rief ich durch ihre geschlossene Zimmertür.
Vicki, jetzt!
Ihre Tür
blieb verschlossen.
Auf dem
Weg zur Arbeit fiel mir mit Entsetzen ein, wie peinlich es wäre, heute Abend mit
dem Koffer in der Hand vor meiner Großmutter zu stehen und zuzugeben, dass mich
– genau wie im Sommer – schon wieder jemand vor die Tür gesetzt hat.
Mein Gott,
es ist nicht peinlich. Es ist eine Katastrophe! Niemand hält es mit mir aus.
Also wird
auch Lila mich nicht wollen, abgesehen davon, dass sie und Rob in ihrer Miniwohnung
höchstens noch Platz in der Besenkammer hätten.
Als ich
wenig später mit verheulten Augen in Leos Büro aufkreuzte, er sich wunderte und
ich ihm erklärte, dass ich zu Hause rausgeflogen war, lachte er und reagierte einfach
wunderbar. Er griff in seine Jackentasche, holte seinen Hausschlüssel heraus und
warf ihn mir zu.
»Bei mir
wird es spät heute. Du kannst nach der Arbeit zu mir fahren. Ich komme nach.«
So locker,
als würde er mich zum Kaffeetrinken einladen. Ich war überwältigt. In diesem Moment
war ich sicher, dass er mich liebte.
Jetzt wohne ich – hoppla, ging das
fix – also bei Leo. Und, nein, Vicki kann mir nicht vorwerfen, dass ich schmetterlingshaft
zu ihm hingeflogen wäre. Ich wollte nicht weg von ihr. Sie hat mich
geschubst. Und wie!
Ich habe
mir eines der vier Schlafzimmer bei ihm ausgesucht, direkt neben seinem – ein schöner
großer Raum mit bodentiefen Kassettenfenstern, dunklem Parkett und weiß gestrichenen
Wänden. Meine Sachen sind in seine Schränke geräumt. Im kleinen Bad, das direkt
an mein Zimmer grenzt, stapelt sich meine Kosmetik. Auf dem Schreibtisch am Fenster
steht mein Laptop, an dem ich gerade ein wenig recherchiere.
Augustas
Tagebuch (das ich ohne zu fragen einfach mitgenommen habe, da Vicki es ja sowieso
blöd findet) liegt neben mir. Ich hatte gehofft, im Internet Informationen über
Augusta zu bekommen. Doch ihr Name ergibt leider Null Treffer.
An die alten Bücher der Familie von Liesen, in denen ich
noch weiterforschen könnte, komme ich vorerst nicht mehr heran. Zumindest so lange
nicht, bis Vicki und ich uns ausgesprochen und versöhnt haben. Wann das sein wird,
weiß ich nicht.
Ich will jetzt nicht über Vicki nachdenken (es ist doch alles
nur ein doofes Missverständnis, oder?), nicht über meine Sachen, die ich noch in
ihrer Wohnung habe, auch nicht über Basti (dem ich bei unserem Treffen alles beichten
muss).
Ich will eigentlich nur eins. Mit Leo in seinem Bett, auf
dem Fußboden oder sonst wo liegen und Sex haben. Der Gedanke daran ist das Einzige,
was mir im Moment Wohlgefühl verschafft. Und deshalb denke ich fast immer daran.
Jedenfalls immer dann, wenn ich nicht an Vicki, Daniel, Basti … und die ganzen verdammten
Probleme denke. Und an das traurige Schicksal der armen Augusta.
Lebendig
begraben …
Ich mache
mir nichts vor. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich herausbekomme, wie Augusta gestorben ist, ob Vickis schaurige Familiengeschichte wahr ist und ob wirklich
Friedrich von Oranienbaum seine Finger dabei im Spiel hatte.
Vielleicht
sollte ich sie einfach vergessen. Abhaken?
Aber immer,
wenn ich das Tagebuch sehe, Augustas zarte eigenwillige Schriftzüge, die ich so
mühsam zu entziffern gelernt habe, und ihr hübsches Gesicht auf dem Foto betrachte,
ist sie wieder präsent.
Es ist, als wäre eine gute Freundin von mir ganz plötzlich
nicht mehr da, und ich wüsste, dass sie mir vor dem Abschied noch etwas Wichtiges
mitteilen wollte.
Und deshalb lässt es mich nicht los.
Ich würde wahnsinnig gerne das Rätsel um ihren plötzlichen
Tod lösen. Sie war 18, als sie 1912 kurz vor Weihnachten starb. Und im November,
als sie ihre letzten Eintragungen machte, vollkommen gesund. Nur ein einziges Mal
im ganzen Tagebuch hatte sie erwähnt, dass sie sich nicht wohl
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