Herbstvergessene
Almond anhob, erneut eine Entschuldigung zu stammeln, schnitt ich ihr das Wort ab: »In fünf Minuten erwarte ich seinen Rückruf.«
Ich gab Tracy meine Handynummer, was sie kurz stutzen ließ, doch sie empfand es in diesem Moment wohl als klüger, nicht noch einmal nachzufragen. Drei Minuten später klingelte mein Mobiltelefon.
»Yes please?«, sagte ich und klang immer noch wie Hillary Farlow.
Es blieb kurz still und ich spürte, wie irritiert er war und wieer versuchte, das Gehörte einzuordnen. Ungläubig begann er zu sprechen: »Maja?«
»Ja, Maja«, antwortete ich schlicht. »Sie haben nicht lange gebraucht.«
»Ihre Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt.«
Ich wusste nicht recht, was ich mit seiner Antwort anfangen sollte, deshalb wartete ich einfach ab.
»Was um alles in der Welt soll das?«
»Ich muss Sie sprechen.«
»Die arme Tracy ist ganz durcheinander. Hätten Sie nicht einfach auf die Mobilbox sprechen können? Ich hätte Sie gleich zurückgerufen.«
»Ich wollte
mit Ihnen
sprechen und nicht auf Ihre Mobilbox.«
»That’s hairsplitting.«
»Sagen
Sie
.«
»Sagen die Amerikaner. Okay. Was gibt’s so Dringendes?«
Täuschte ich mich oder klang er vorsichtig oder gar gedämpft?
»Es geht um etwas, das ich erfahren habe. Wegen früher.«
»So schlimm?« Es war ein Versuch, locker zu klingen. Ich ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte ich: »Wo sind Sie? Dass Sie nicht in der Klinik sind, weiß ich schon. Sonst hätten Sie Mrs Farlows Anruf ja entgegennehmen können.«
»Ha, ha.«
»Also, wo sind Sie?«
»In Europa.«
Ich vermied es, ihm zu sagen, dass ich zumindest wusste, wo er vor einer Woche gewesen war. Stattdessen bohrte ich weiter: »Good old Europe again. Geht’s noch etwas ungenauer?«
»Sagen Sie mir einfach, wo
Sie
sind, und ich werde zu Ihnen kommen.«
»Sind Sie wieder auf einem Phlebologie-Kongress?« Grimmig wartete ich auf seine Antwort. Der Kongress, der nie stattgefunden hatte. Auch darauf würde ich ihn ansprechen.
»So was Ähnliches. Also?«
Ich zögerte nur kurz, bevor ich sagte: »Wien.« Schließlich gab es da noch jemanden, den ich sprechen musste.
»Schon wieder? Sind Sie umgezogen?«
»Nope.«
»Also noch einmal zum Mitschreiben: Sagen Sie wann und wo und ich werde da sein.«
Er musste sehr an dem interessiert sein, was ich zu sagen hatte.
»Mariahilfer Straße. Im selben Café. Sagen wir morgen um zehn Uhr?«
Ich war dabei, den Wochenspeiseplan zu tippen, als Sartorius hereinkam. Ich hielt inne, er grüßte, ich erwiderte seinen Gruß. Einen kurzen Moment lang sahen wir uns an, und als er nicht weitersprach, wandte ich mich wieder meiner Liste zu.
»Sie fragen ja gar nicht, wie meine Reise nach München verlaufen ist?«
Lag da ein lauernder Unterton in seiner Stimme? Ich bemühte mich um Festigkeit und fragte: »Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja, danke der Nachfrage, die Reise hat ihren Zweck erfüllt.«
Er sah mich unverwandt an, und als ich sein Starren nicht mehr aushielt, stand ich auf, ein wenig zu hastig.
»Sie möchten sicher einen Kaffee. Ich koche mal eine Kanne.«
Ich verschwand im Nebenzimmer, hantierte mit Wasser und Tauchsieder, als ich plötzlich, ganz dicht hinter mir, eine Bewegung wahrnahm. Ich fuhr herum. Sartorius stand vor mir und lächelte. Scheinbar leichthin sagte er: »Es ist doch immer wieder erfrischend festzustellen, wie klein die Welt ist.«
Ich umfasste die Kanne, die ich in einer Hand hielt, nun fester, umklammerte sie mit beiden Händen.
»Ich verstehe nicht.«
»Ach nein?«
»Nein.«
»Sie haben«, sagte er und trat noch näher an mich heran, »Hans Wilhelm als den Vater Ihres Kindes angegeben.«
Ich fühlte, wie meine Knie weich wurden, wie mein Gesicht zu brennen anfing. Seine Augen waren nur ein paar Zentimenter von meinem Gesicht entfernt, sodass ich das Grüne im Blau seiner Pupillen schillern sah, und sein Atem streifte meine Lippen. Unddann fühlte ich plötzlich seinen Mund auf meinem, seine Lippen, die sich öffneten, die Hitze der Berührung. Ich blieb regungslos, wagte nicht, mich zu bewegen. Er wusste es, wusste alles.
Er ließ mich gehen, ohne ein weiteres Wort. Und ich huschte davon, wieder an meine Schreibmaschine, wo die Speisen vor meinen Augen verschwammen und sich alles um mich herum zu drehen begann. Was würde nun werden? Würde er seine Informationen an den Lebensborn-Vorstand weiterleiten? Welche Informationen hatte er überhaupt? Ein Verdacht kam in mir auf: Hatte er
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