Herbstvergessene
dem Vorstand bereits alles berichtet, war das der Grund für seinen unvermuteten Besuch in München gewesen? Und – das war die Frage, die mich am meisten beschäftigte – woher wusste er es?
Die Zeit bis zum Mittagessen verging wie im Taumel, ich schaffte es noch nicht einmal, die Liste fertig zu tippen, ich ging nur grübelnd hin und her. Hier in Hohehorst gab es nur einen einzigen Menschen, dem ich ein winziges Stück der Wahrheit erzählt hatte. Hanna. Und Hanna traf sich heimlich mit Sartorius.
Wie immer holte sie mich um zwölf Uhr zum Mittagessen ab. Und während sie Spiegeleier mit Kartoffeln und Spinat aß und ich im Eigelb herumstocherte, versuchte ich mich an jedes Wort zu erinnern, das ich ihr gegenüber je geäußert hatte. An meiner Schweigsamkeit merkte Hanna bald, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihr Geplapper versiegte und hin und wieder warf sie mir einen aufmerksamen Blick zu, als versuchte sie auf meiner Stirn zu lesen, was dahinter verborgen war. Nachdem wir unsere Tabletts zurückgebracht hatten, entschuldigte ich mich und kehrte unter dem Vorwand der vielen Arbeit sofort an meinen Schreibtisch zurück. Dort saß ich dann wie versteinert vor meiner Schreibmaschine und rührte mich nicht. Ich hatte ein neues Leben gefunden, doch auch dieses war nun wackelig geworden, brüchig, und es war nur noch eine Frage der Zeit – eines Wortes von Sartorius –, bis das Kartenhaus der Lügen in sich zusammenbrach.
An diesem Tag beeilte ich mich, nach dem Dienst ins Kinderzimmer zu kommen, ich wollte auf jeden Fall vermeiden, Hanna zubegegnen. Ich verfrachtete Paulchen in den Kinderwagen und fuhr mit ihm kreuz und quer durch den Wald, durch den Park. Noch immer konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Als ich mich wieder dem See näherte, tauchte unverwandt Hanna vor mir auf dem Weg auf. Sie war allein, ohne Kinderwagen unterwegs, in ihren praktischen Schuhen, und kam geradewegs auf mich zu.
»Warum läufst du vor mir weg? Was ist passiert?«
»Nichts.« Ich starrte die Räder des Kinderwagens an, Laub klebte an ihnen. Dann hob ich langsam den Blick und sah sie an, die Verräterin, mit ihren porzellanblauen Puppenaugen, so rund und unschuldig.
»Ich weiß nicht, was du hast. Habe ich irgendetwas Falsches gesagt? Oder getan?«
Ich schwieg beharrlich. Dann, nach einer Weile, sagte ich: »Lass mich vorbei.«
Ihre Porzellanaugen wurden noch etwas größer.
»Ich gehe erst weg, wenn du mir sagst, was los ist.«
»Nun, du und dein Geliebter, dein heimlicher Geliebter, ihr wisst ja jetzt, was ihr wissen wolltet.«
»Wie bitte … was … ich verstehe nicht.«
»Tu doch nicht so scheinheilig. Du könntest wenigstens jetzt dazu stehen.«
»Verdammt, jetzt red nicht so geheimnisvoll daher, sag mir einfach, was du mir sagen willst.«
»Ich werde gar nicht mehr mit dir reden. Denn du bist eine Verräterin.«
Das letzte Wort schien sie aus dem Konzept zu bringen. Sie stand da, ließ die Arme baumeln und sah mich an, ungläubig und anscheinend fassungslos. Dann wich sie zurück. Ich setzte mich in Bewegung, schob den Wagen so schnell ich konnte den Weg entlang. Paulchen kralte und war zufrieden. Doch ein paar Minuten später tauchte Hanna wieder neben mir auf und begann auf mich einzusprechen.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ja, ich habe ein Verhältnis mit Sartorius, und das hätte ich dir vielleicht erzählen sollen, doch erhat es mir verboten. Aber was hat denn das mit uns beiden zu tun, mit unserer Freundschaft?«
Wir näherten uns dem Haus, sahen es grau durchs Gebüsch schimmern. Die Dämmerung war inzwischen hereingebrochen und unsere Stimmen klangen laut und unwirklich in der Stille. Leise sagte ich: »Du hast ihm verraten, was ich dir über Paulchens Vater erzählt habe.«
»Ja und? Was ist denn so schlimm daran? Er hat mich mal nach dir gefragt, ob ich wüsste, wie Paulchens Vater heißt und ob er verheiratet ist und – ja – ob er noch lebt, das war alles. Das darf doch jeder wissen, meine Güte, hier haben doch alle eine verkorkste Geschichte, da bist du doch nicht die Einzige!«
»Tu doch nicht so scheinheilig! Du hast mich ausspioniert und irgendwie hat er es herausgefunden …«
»Was denn herausgefunden? Um Himmels willen, so red doch endlich!«
Ich war abrupt stehen geblieben. Und so standen wir uns gegenüber, Hanna und ich, und sie sah mich an, mit fast so etwas wie Verzweiflung im Blick.
»Was bist du doch für eine gute Schauspielerin!« Ich tat einen Schritt
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