Herbstwald
schon Privatpatient war. BAföG-Rückzahlung sei Dank.«
»Ich werde mich beim Sozialamt erkundigen«, sagte Davídsson nach einem kurzen Moment des Nachdenkens.
»Dann will ich Sie mal nicht in Versuchung bringen, weitere Karies anzusetzen, und nehme das letzte Stückchen Zwetschgendatschi«, sagte Hofbauer mit einem Lächeln auf den roten Wangen.
6
E r saß im Wartebereich und fühlte sich unwohl. Der schwarze Anzug und das teure weiße Hemd passten hier nicht her. Die Frau, die wie er auf den harten Blechstühlen darauf wartete, bis ihre Nummer aufgerufen wurde, musterte ihn, seitdem er sich ihr gegenübergesetzt hatte.
Er hatte das Sakko im Auto liegen gelassen und die Krawatte abgenommen, um etwas legerer auszusehen, aber im Vergleich zu den anderen Menschen in dem stickigen Container, in dem das Sozialamt untergebracht war, sah er aus wie ein Teilnehmer eines Schönheitswettbewerbs.
Selbst die Sachbearbeiterin, die Davídsson freundlich, aber sehr bestimmt davon abgehalten hatte, sich bei ihr vorzustellen, ohne eine Wartemarke vorzulegen, hatte nur eine verwaschene Jeans und einen Pullover mit buntem Muster an.
Vor ihm warteten noch sieben Menschen darauf, dass der Staat ihnen helfen würde.
Davídsson wusste, was es heißt, von staatlicher Hilfe zu leben. Sein Vater hatte ihn zum Sozialamt mitgenommen, kurz nachdem sie in das heruntergekommene Mehrfamilienhaus in der Barmahlíð gezogen waren. Sie waren damals voller Hoffnungen nach Reykjavík gekommen, nachdem es in Siglufjörður kaum noch Arbeit für die Fischer gab. Die große Landflucht hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht und fast alle Kollegen seines Vaters waren mit ihnen in die Hauptstadt gezogen.
Zunächst hatten sein Vater und drei befreundete Kollegen versucht, ihre Familien mit dem Verkauf von Hákarl zu ernähren. Er war mit ihnen jeden Samstag auf den Kolaportið gegangen, der damals noch nicht in der alten Halle in der Tryggvagata in der Nähe des Hafens war, um dort kleine Plastikbeutel mit dem weichen, nach Ammoniak riechenden Fleisch des Grönlandhais zu verkaufen.
Aber damals war gerade nicht die Zeit für traditionelles isländisches Essen. Es gab noch keine Touristen, die extra nach Island gereist kamen, um im nördlichsten Flohmarkt der Welt übel riechenden Haifisch zu kaufen.
Stattdessen entdeckte man in Island gerade die amerikanische Küche und wollte nichts mehr von svið und súrsaðir hrútspungar wissen. Abgesengte, gekochte Schafsköpfe oder in Molke eingelegte Hammelhoden waren nichts für junge, karrierebewusste, großstädtische Menschen. Es war nur das jahrhundertealte Essen der armen Fischer und der einfachen Leute.
Andere waren mit dem Verkauf von Stockfisch gescheitert, und schließlich hatten sie alle nacheinander aufgegeben. Erst einige Jahre später, als sein Vater schon längst gestorben war, wurde es wieder modern, ein Stückchen Hákarl mit Brennivin herunterzuspülen oder mit gesalzener Butter bestrichenen Stockfisch als Snack für zwischendurch zu essen und sich dabei trotzdem als weltoffener Isländer zu fühlen.
Heute schien sich keiner mehr daran zu stören, dass es früher einmal ein Arme-Leute-Essen war, das man den Schiffsmannschaften und Soldatenheeren auf ihren langen Reisen mitgegeben hatte, damit sie nicht verhungerten.
Ólafur Davídsson hatte es viele Jahre später als Einziger seiner Familie geschafft, finanziell auf einen grünen Zweig zu kommen.
An der isländischen Börse hatte er beim Kauf von Aktien der Landsbanki Íslands und des Lebensmittelkonzerns Bakkavör eine glückliche Hand bewiesen, bevor ausländische Investoren den Markt für sich entdeckten und damit die Kurse in schwindelerregende Höhe trieben.
Bevor sich das Blatt wenden konnte, hatte er alle Aktien verkauft und sich aus dem Börsenhandel verabschiedet. Das Geld, das er mit dem Verkauf der Aktien gemacht hatte, reichte, um sich eine schöne Eigentumswohnung in einem Neubau in Berlin-Mitte kaufen zu können. Außerdem war noch genügend Geld vorhanden, um sich einen gut ausgestatteten Saab zu kaufen, ohne dafür einen Kredit in Anspruch nehmen zu müssen.
Das Geld, das ihm das Bundeskriminalamt für seine Arbeit als Kriminalanalyst zahlte, war genug, um sich ein angenehmes Leben leisten zu können, und so war es ihm möglich, in der Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette einzukaufen oder sich teure Markenkleidung zu leisten.
Im Gegensatz zu seiner Kindheit konnte er sich jetzt sogar einen Urlaub in
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