Herbstwald
Südfrankreich gönnen, ohne dabei jeden Cent dreimal umzudrehen.
Trotzdem hatte die frühere Armut der Familie Spuren bei ihm hinterlassen. Er dachte oft daran, wie er früher hungrig ins Bett gegangen war, weil nicht genügend Geld für den Einkauf der einfachsten Lebensmittel da gewesen war. Und er dachte daran, wie sein Vater an den pompösen Bankschaltern gestanden hatte, um den Mitarbeiter dahinter wegen ein paar Kronen anzuflehen. Er wusste, wie peinlich es seinem Vater gewesen war und wie schwer es ihm gefallen war, beim Sozialamt für die Miete der schäbigen Wohnung im Hlíðar Suður zu betteln.
Ein Fischer, der es gewohnt war, ohne viele Worte gegen die raue See und leergefischte Meere anzukämpfen, musste jetzt damit fertig werden, dass er an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden war.
Letztendlich war Davídssons Vater daran zerbrochen und hatte das Gefühl so gut es ging in Alkohol ertränkt, bis er daran zugrunde gegangen war.
Die Sozialämter waren offenbar auf der ganzen Welt gleich.
Eine Art Weltverschwörung, dachte Davídsson, während er an seinen Vater dachte. Sie konnten nicht einfach helfen, nachdem sie sich die Geschichte und das Schicksal der Menschen angehört hatten, die hier Hilfe suchten.
Sie brauchten Bürokratie.
Papier. Tonnenweise.
Auch sein Vater hatte damals Probleme mit den Formularen gehabt, als sie im Laugavegur darauf gewartet hatten, vom Staat Hilfe zu bekommen. Er war nur ein einfacher Fischer gewesen, der den Sinn hinter den ganzen Papieren nicht verstanden hatte.
Das war jedoch kaum eine Frage der Intelligenz, eher der fehlenden Schulbildung. Siglufjörður hatte zur Schulzeit seines Vaters nur eine alte Lehrerin, die kaum noch dazu im Stande war, zu unterrichten. Wenn die Kinder dann nicht mitmachten, schickte sie sie einfach weg. Das war den Eltern recht, die ihre Kinder dann arbeiten lassen konnten, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben, und der Lehrerin war es ebenfalls recht, denn kleinere Klassen waren einfacher zu kontrollieren.
Ólafur Davídsson stand auf und stellte sich neben den Automaten, der die Wartemarken verteilte. Vor ihm warteten immer noch sieben Menschen. Die gelben Zahlen auf der Anzeigetafel an der Wand hatten sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr verändert. Kein ohrenbetäubender Gong hatte ihn aus den Gedanken gerissen.
Die Menschen hier schien das kaum zu stören.
Er las die farbigen Zettel an den Bürotüren. ›Nur nach Aufforderung eintreten‹, stand da, oder ›Ziehen Sie erst eine Wartemarke.‹
Gerade wollte er einen Rechtschreibfehler in der englischen Übersetzung korrigieren, als sich die Bürotür öffnete und zwei Mitarbeiterinnen herauskamen, die ihn überrascht ansahen.
Für einen Moment hörte Davídsson, wie im Büro »… Happy birthday to you, happy birthday, lieber Harald …« gesungen wurde und er konnte für einen Augenblick eine kleine, aufgetaute Torte in der Mitte des Schreibtisches erkennen und er sah, wie die Mitarbeiterinnen einem älteren Kollegen mit Sekt zuprosteten.
»Warten Sie bitte im Wartebereich«, sagte die eine Sozialamtsmitarbeiterin, nachdem sie sich an Davídsson vorbeigequetscht hatte. Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich ihrer Kollegin zu: »Holst du die Sprühsahne aus dem Kühlschrank? Ich hole noch einen Stuhl aus meinem Büro.«
Davídsson spürte, wie er wütend wurde, aber er wusste auch, dass es bei ihm im BKA an manchen Tagen nicht anders zuging. Seine Kollegen und er trafen sich dann in einem langen, fensterlosen Besprechungsraum und feierten einen Geburtstag oder die Geburt eines Kindes oder den Einstand eines Kollegen.
»Ich bin dienstlich hier«, sagte er, ohne sich seinen Unmut anmerken zu lassen.
»Wir sind gleich fertig, dann hole ich Sie aus dem Wartebereich.«
Eine halbe Stunde später saß der Kriminalanalyst der Sachbearbeiterin gegenüber, die ihr Versprechen gehalten und ihn aus dem Wartebereich geholt hatte, bevor seine Nummer aufgerufen worden war.
Das Namensschild auf dem Schreibtisch verriet ihm, dass sie mit Nachnamen Mergel hieß. Sie tippte etwas in den Computer, und Davídsson saß auf einem harten Stuhl, wie sie früher auch in Schulen hinter den Pulten gestanden hatten, bevor man sie wegen der ungesunden Haltung, die man darauf zwangsläufig einnehmen musste, gegen gesündere ausgetauscht hatte.
Der Ölofen hinter der Tür hatte das Büro stark erwärmt und Ólafur Davídsson war froh, dass er keinen Sekt getrunken
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