Hercule Poirot schläft nie
Viertel nach vier erschossen wurde, ist nicht möglich?«
»Ganz ausgeschlossen.«
Poirot hatte inzwischen den Deckel der Schreibmappe aufgeklappt.
»Gute Idee«, sagte Japp, »aber da ist nichts.«
Das oberste Blatt Löschpapier erstrahlte in jungfräul i chem Weiß. Poirot blätterte die anderen Seiten um, aber es war bei allen das gleiche.
Dann wandte er sein Interesse dem Papierkorb zu.
Dieser enthielt zwei oder drei zerrissene Briefe und Werbebroschüren. Sie waren nur einmal durchgerissen und leicht zusammenzusetzen. Ein Spendenaufruf von einer Gesellschaft zur Unterstützung von Kriegsveter a nen. Eine Einladung zu einer Cocktailparty am dritten November. Die Benachrichtigung für einen Anprobete r min von einem Pelzgeschäft und einem Kaufhaus.
»Nichts«, konstatierte Japp.
»Ja, seltsam…«, murmelte Poirot.
»Sie meinen, weil Selbstmörder für gewöhnlich einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Genau.«
»Also ein weiterer Beweis, dass es kein Selbstmord war!« Er schritt zur Tür. »Ich schicke jetzt meine Leute an die Arbeit. Wir gehen am besten hinunter und befragen diese Miss Plenderleith. Kommen Sie, Poirot?«
Poirot stand noch immer wie angewurzelt vor dem Schreibsekretär und den darauf befindlichen Gegenstä n den. Endlich ging er, aber in der Tür drehte er sich noch einmal um und starrte auf die prächtige grasgrüne Schreibfeder.
2
Am Fuß der schmalen Treppe öffnete sich eine Tür in einen großen Wohnraum – den ehemaligen Pferdestall. In diesem Raum, dessen grobverputzte Wände mit Radi e rungen und Holzschnitten geschmückt waren, saßen zwei Frauen.
Die eine, die in einem Sessel vor dem Kamin saß und die Hände gegen die Glut ausstreckte, war eine dunke l haarige, tüchtig aussehende junge Dame von sieben- oder achtundzwanzig Jahren. Die zweite, eine ältere dicke Pe r son mit einem Einkaufsnetz am Arm, ließ gerade einen atemlosen Wortschwall auf die andere los, als die beiden Männer das Zimmer betraten.
»… und ich sag Ihnen, Miss, ich hab mich so erschr o cken, dass ich fast umgekippt wäre. Und wenn man b e denkt, dass ich ausgerechnet heute Morgen…«
Die andere fiel ihr ins Wort.
»Das genügt, Mrs Pierce. Die Herren sind von der Pol i zei, nehme ich an.«
»Miss Plenderleith?« Japp trat auf sie zu.
Die junge Frau nickte.
»So heiße ich. Das ist Mrs Pierce. Sie kommt jeden Tag zu uns.«
Die unverwüstliche Mrs Pierce brach erneut in einen Redestrom aus.
»Und wie ich eben schon zu Miss Plenderleith gesagt habe, wenn man sich überlegt, dass es ausgerechnet heute Morgen der kleinen Louisa Maud von meiner Schwester schlecht werden muss, und außer mir ist kein Mensch da, und schließlich sag ich immer, das eigene Fleisch und Blut ist einem eben doch am nächsten, und ich hab mir gedacht, Mrs Allen ist bestimmt nicht böse deshalb, o b wohl mir’s immer arg ist, meine Damen zu versetzen…«
Japp unterbrach sie geschickt. »Sie haben vollkommen Recht, Mrs Pierce. Vielleicht hätten Sie jetzt die Freun d lichkeit, Inspektor Jameson in die Küche zu begleiten, damit er Ihre Aussage zu Protokoll nehmen kann.«
Nachdem er die gesprächige Mrs Pierce, die unaufhö r lich weiterredend mit Jameson verschwand, losgeworden war, wandte sich Japp wieder der jungen Frau zu.
»Ich bin Chefinspektor Japp. Miss Plenderleith, ich würde nun gern von Ihnen hören, was Sie mir über die ganze Sache zu sagen haben.«
»Bitte. Wo soll ich anfangen?«
Ihre Selbstbeherrschung war bewundernswert. Bis auf ihre fast unnatürlich steife Haltung war ihr keine Spur von Trauer oder Erschütterung anzumerken.
»Um wie viel Uhr sind Sie heute Morgen hier ang e kommen?«
»Ich glaube, es war kurz vor halb zehn. Mrs Pierce, di e se alte Lügnerin, war nicht da. Ich fand…«
»Kommt das häufiger vor?«
Jane Plenderleith zuckte die Achseln. »Ungefähr zwe i mal in der Woche erscheint sie erst um zwölf oder gar nicht. Eigentlich sollte sie um neun kommen. Aber wie gesagt, zweimal in der Woche ist ihr entweder ›schlecht‹, oder ein Mitglied ihrer Familie wird plötzlich krank. Put z frauen sind alle gleich – ab und zu versetzen sie einen eben. Die hier ist noch nicht mal die schlimmste.«
»Sie haben sie schon lange?«
»Gut einen Monat. Unsere letzte hat gestohlen.«
»Bitte, fahren Sie fort, Miss Plenderleith.«
»Ja, ich habe also das Taxi bezahlt, meinen Koffer h i neingetragen, mich nach Mrs Pierce umgesehen, sie ni r gends gefunden und bin dann hinauf in
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