Hercule Poirots Weihnachten
gemacht. Dann hätte er mir auch Geld hinterlassen – viel Geld! Vielleicht hätte er mir mit der Zeit überhaupt sein ganzes Vermögen vermacht!»
Nun lächelte Stephen.
«Das wäre auch wieder nicht ganz gerecht gewesen.»
«Warum nicht? Er hätte mich eben am liebsten gehabt, das ist alles.» Sie sah düster vor sich hin. «Die Welt ist Frauen gegenüber sehr grausam. Sie müssen versuchen, zu Geld zu kommen, solange sie jung sind. Wenn sie alt und hässlich werden, gibt ihnen niemand mehr etwas.»
«Machen Sie sich jetzt keine Sorgen darüber, hübsche Pilar! Die Lees sind verpflichtet, für Sie zu sorgen.»
«Schon, aber sehr amüsant wird das nicht werden», sagte sie.
«Nein, wahrscheinlich nicht», antwortete er langsam. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier leben sollen, Pilar. Wollen Sie nicht lieber nach Südafrika kommen? Dort ist Sonne und Weite. Allerdings auch harte Arbeit. Arbeiten Sie gern?»
«Ich weiß es nicht», sagte sie zögernd.
«Oder würden Sie lieber den ganzen Tag auf einem Balkon sitzen? Und fürchterlich dick werden und drei Doppelkinne bekommen?»
Pilar musste lachen.
«So gefallen Sie mir besser. Ich habe Sie zum Lachen gebracht!»
«Ich habe gedacht, dass ich heuer zu Weihnachten viel lachen würde. In Büchern steht, wie lustig englische Weihnachten sind. Man isst brennende Rosinen und Plumpudding, der in Flammen aufgetragen wird, und man bekommt einen Julklapp und –»
«Aber meine Liebe, das gilt nur für Weihnachten, die nicht durch einen Mord belastet wurden! Kommen Sie. Lydia hat mir gestern ihre Vorratskammer gezeigt.»
Er führte sie zu einem kleinen Raum, der kaum viel größer war als ein großer Wandkasten.
«Sehen Sie, alle die Büchsen mit Gebäck und eingemachten Früchten, Orangen, Datteln und Nüssen. Und hier…»
«Oh!», rief Pilar aus. «Die sind hübsch, diese Gold- und Silberkugeln!»
«Die sollten an einem Baum hängen mit den Geschenken für die Dienerschaft. Und diese kleinen Schneemänner mit den glitzernden Eiskristallen, die sollten beim Essen auf dem Tisch stehen. Und hier sind Ballons in allen Farben, die wir aufgeblasen hätten.»
Pilars Augen strahlten. «Ach, blasen wir doch einen auf! Lydia würde es bestimmt erlauben. Ich habe Ballons so gern!»
«Sie sind ein Baby! – Also gut! Welchen wollen Sie haben?»
«Den roten natürlich!»
Sie wählten je einen Ballon aus und bliesen sie nun mit geblähten Backen zu bunten Kugeln auf. Dann schnürten sie die Enden sorgfältig zu und warfen die Ballons in die Luft, um sie, sobald sie bis auf Reichweite niedergeschwebt waren, mit leichten Stößen wieder höhersteigen zu lassen.
«In der Halle draußen hätten wir viel mehr Platz», sagte Pilar. Als sie dort mitten im schönsten Spielen waren, erschien Hercule Poirot. Er sah ihnen nachsichtig lächelnd zu.
«Soso, Sie spielen les jeux d’enfants! Hübsch ist das.»
«Der rote ist meiner», erklärte Pilar atemlos. «Er ist viel größer als seiner. Wenn wir sie draußen fliegen lassen würden, stiege meiner bis in den Himmel hinauf!»
«Also gut, lassen wir sie fliegen», schlug Stephen vor. «Dann dürfen wir uns etwas dabei wünschen.»
Pilar war begeistert. Sie rannte durch die Gartentür hinaus. Poirot folgte den beiden nachsichtig und leicht amüsiert.
«Ich wünsche mir viel, viel Geld», rief Pilar. Sie hielt ihren Ballon hoch über den Kopf, und als ein Windstoß kam, ließ sie ihn los. Er wurde wirklich emporgetragen.
Stephen hatte weniger Glück. Kaum hatte er seinen Ballon losgelassen, als der Wind diesen seitlich abtrieb, worauf er in einen Stechpalmenbusch flog und dort zerplatzte.
Pilar lief sofort zu der Unglücksstätte.
«Kaputt», verkündete sie betrübt. Sie stieß das geschrumpfte Häufchen Gummi mit dem Schuh an. «So etwas habe ich in Großvaters Zimmer vom Boden aufgehoben. Er hatte auch einen Ballon. Nur war seiner hellrot.»
Poirot schrie plötzlich auf. Pilar sah sich fragend nach ihm um.
«Nein, nein, es ist nichts», versicherte er hastig. «Ich habe mir nur meine Fußspitze angeschlagen.»
Er drehte sich brüsk um und betrachtete das Haus.
«So viele Fenster! Ein Haus, Mademoiselle, hat Augen und Ohren. Und die Engländer lassen gerne die Fenster offen stehen.»
Lydia erschien auf der Terrasse.
«Das Mittagessen ist bereit. Pilar, es ist alles in Ordnung. Alfred wird es dir nach dem Essen eingehender erklären. Wollen wir zu Tisch gehen?»
Sie begaben sich alle miteinander ins
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