Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
verlöre... Ein einziges Ja mit verschleierten Augen und
sonst nichts. Das nähme er mit ins Leben; er mußte eine einzige
Sicherheit haben, um nicht die Ungewißheit seiner Jugend gegen
eine andere einzutauschen. Er hatte plötzlich allen Glauben an die
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Zukunft verloren. Er stand in einem Zusammenbruch und hielt sich
krampfhaft an ihr, der einzig Liebenswerten, fest.«
Oh, das Verhalten im »Demian« ist dennoch anders. Auch im
»Demian« spielt der Vater zwar keine sichtbare Rolle; aber es
herrscht dafür eine absolute Gebundenheit an den Freund; eine
erschreckende, primitive Abhängigkeit von Mann zu Mann; vom
Schwachen zum Stärkeren, von demjenigen, der Schicksalsschläge
erleidet, zu demjenigen, der wie ein Gott oder Dämon, wie das
Fatum selbst, als der Eingeweihte und Mystagoge das Schicksal
lenkt. Und dadurch ist Hesse dem anderen Dichter gegenüber
komplizierter; auch gegenüber dem Urbilde der Mutter. Sinclair
vermag sie nicht ungeteilt zu lieben; nur sein innerster, verhohlener
Traum, sein Doppelgänger und höheres Ich, nur Demian kennt und
liebt sie. Sinclair versucht nicht einmal zu entscheiden, ob er mehr
den Freund oder die Mutter liebt; den väterlichen Beschützer oder
das Bild seiner Verehrung, das Urbild der Frau, das Urbild der Sinne,
Frau Eva. Die wirkliche Mutter des Dichters aber heißt nicht Eva,
sondern Maria.
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Tübinger Goethestudien
Hermann Hesse ist Autodidakt. Er hat sich seine artistischen Mittel
und seine Kenntnisse, seine Moral und religiöse Überzeugung selbst
geschaffen, als ein freier Mann. »Mit fünfzehn Jahren«, sagt er,
»begann ich bewußt und energisch meine Selbsterziehung.« Das
klingt zunächst erstaunlich. Des Dichters Vater war Erzieher
gewesen, im Hause des Barons von Stackelberg, und dann auch an
der Basler Missionsanstalt. Das Hessesche Elternhaus unternahm
geradezu den Versuch, die Übungen eines Klosters samt den drei
Gelübden der Armut, Keuschheit und des Gehorsams in den Rahmen
einer bürgerlichen Familie zu übertragen.
An Erziehung fehlte es also nicht; es war eher zuviel davon
vorhanden. Doch es war eine Erziehung von »vor hundert Jahren«.
Man konnte sie unmodern und romantisch nennen. Man konnte von
einer Gefühlserziehung sprechen, die mit der Umgebung in manchen
Stücken
kontrastierte.
Es
war
eine
saubere,
gepflegte,
wohlanständige Erziehung, aber sie war mit der Wirklichkeit nicht
einmal eines Schwarzwaldstädtchens in Einklang zu bringen,
geschweige denn mit den Voraussetzungen eines modernen Dichters.
Es war eine triebfremde Erziehung. Schon dem Schwaben Friedrich
Schiller hatten ähnliche Umstände die Feder in die Hand gedrückt zu
einem Essay über die Schamhaftigkeit der Dichter. Schon ihn hat
man als Knaben predigen, als Jüngling für die »erhabenen
Verbrecher« sich interessieren sehen.
Mit Glaube, Liebe und Hoffnung beginnt die Mutter ihr Tagebuch.
Aber es sind Worte, deren Anwendung eine bestimmte bürgerliche
Grenze hat. Die frommen Worte erstrecken sich nicht auf unliebsam,
überraschende und durchkreuzende Ereignisse und Menschen; sie
beziehen sich nur auf die gesittete Sphäre gleichgerichteter Freunde
oder auf ganz und gar Wilde, auf Afrikaner und Muselmänner, auf
Teufelsanbeter. Unbedingt ist nur der Wille der Mutter, alle
Vorkommnisse der ihr vertrauten Welt an das Apostelwort zu binden.
Der Apostel aber, der jene Worte zum ersten Male aussprach, er
stand in den Kämpfen eines untergehenden Weltreichs, aus dem er
die Überlebenden sammelte. Er sah die Geschicke einer von allen
Lastern und Ausschweifungen zerfressenen Aristokratie. Er sah
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überschäumende Götter und wahnwitzige Propheten; man darf sein
Wort nicht verkleinern.
Im Geburtsjahr des Dichters notiert die Mutter: »Wir haben heute
(im Januar) etwas Neues angefangen, das Frühaufstehen, und
tranken um 7 Uhr bei Lampenschein Kaffee. Johnny und ich lesen
unsere zwei alttestamentlichen Kapitel vor dem Frühstück und beten
zusammen, ich wecke Katharina (das Dienstmädchen) und kleide die
Kinder an, während mein Johnny Hebräisch studiert in Charles'
durchschossener Bibel.« Aber die Kinder können nicht recht
verstehen, weshalb und wofür diese Zucht; es fällt ihnen ein Dunkel,
eine Angst, ein Schauder zu, noch nicht »bekehrt« zu sein.
Von der drakonischen Strenge des Vaters war bereits die Rede. Für
Calw bezeugt sie der Dichter vielleicht allzu bitter in seiner
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