Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Novelle
»Kinderseele«. Auch diese Strenge bleibt für das Kind nur ein Rätsel;
denn eine Belehrung über die Tücke der phantastischen Instinkte,
über jenes neugierige Forschen und Eindringen in die
Elterngeheimnisse würde schon die Scham verletzen; überdies ist
Hesse einer der ersten Dichter, die diese Welt überhaupt zugänglich
machten. In Kornthal, wo die Mutter erzogen ist, pflegte man an
Jubiläen zu singen:
Ach, ich bin viel zu wenig,
Zu preisen Gottes Ehr;
Er ist der ew'ge König,
Ich bin von gestern her.
Das ist kaum ein Spruch für Dichter, die sich berufen fühlen, gar
sehr Gottes Lob und Preis in der Natur zu singen. Und wie mag man
an Buß- und Bettagen gesungen haben, wenn schon die Freudentage
eine so niederdrückende Bußkraft atmen? Im Vaterhaus selbst sang
man an den Geburtstagen:
Ist's auch eine Freude,
Mensch geboren sein?
Darf ich mich auch heute
Meines Lebens freun?
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Auf solche Voraussetzungen bezieht sich die gelegentliche Äußerung
des Dichters, wenn er sagt: »Fromm war ich nur bis etwa zum
dreizehnten Jahr (bis zur Erkenntnis des Dichterberufes). Bei meiner
Konfirmation, mit vierzehn Jahren, war ich schon ziemlich skeptisch,
und bald darauf begann mein Denken und meine Phantasie ganz
weltlich zu werden, ich empfand, trotz großer Liebe und Verehrung
für sie, doch die Art von pietistischer Frömmigkeit, in der meine
Eltern lebten, als etwas Ungenügendes, irgendwie Subalternes, auch
Geschmackloses und revoltierte im Beginn der Jünglingsjahre heftig
dagegen.«
Erziehung und Selbsterziehung nehmen in Hesses Büchern einen
breiten Raum ein. Im »Camenzind« befürwortet er das ländliche und
geistige Idyll, »Nimikon« und Assisi, gegenüber den Verwirrungen
des Intellekts; gegenüber den modischen Zerrissenheiten der
Großstadt und einer futilen Geselligkeit. Im »Demian« ist es die
Erziehung durch Freund und Frau; ist es die Aufhebung der »Moral«
zugunsten einer verdrängten inneren Welt. Der Mensch trägt Ur- und
Vorwelt in sich, aber tief verschüttet. Sie sollen zutage gefördert,
sollen empfunden werden. Dann erst kann, nach dem Dichter,
fruchtbare Bildung beginnen.
Der »Siddhartha« vollends ist die Apotheose der Selbsterziehung.
Der Priestersohn, der dort im Mittelpunkte steht, verläßt ein
Brahmanenhaus
mit
all
dessen
mehr
pflicht-
und
gewohnheitsmäßigen als lebensnahen Waschungen und Riten. Er
verläßt auch die ihm in Fleisch und Blut übergegangenen längst
geläufigen Übungen der Mönche und begibt sich in die Schule eines
Kaufmanns und einer Kurtisane. Er will die Erstarrung brechen, die
ihm das Vaterhaus anerzogen hat. Nicht einmal dem berühmten
Gautamo Buddha mag er folgen. Das Leben soll neu und von vorn
beginnen. Mit allen Schmerzen und Enttäuschungen will Siddhartha
es erst erfahren, aber selbst erfahren, ehe er seinerseits zum
Erleuchteten wird und eine Lehre aufstellt, die keine Lehre mehr ist,
die keinen Gehorsam mehr verlangt.
Und noch der »Steppenwolf«, Hesses jüngstes Buch, ist ein
Erziehungsroman. Der fünfzigjährige Dichter kennt das Erbe seiner
Herkunft wohl; doch er kennt auch die Mitgift seiner Nation. Er
begibt sich in die mütterliche Erziehung eines Mädchens, dessen
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Name wie das Feminin seines eigenen Vornamens klingt. Und da er
die stärksten Kontraste aufsuchen muß, um seine harte und
ausfällige innere Kontur zu lösen, so begibt er sich in die Schule
einer Tänzerin und eines Saxophonbläsers. Oh, er kennt auch die
Schule des alten Goethe und des ewig jungen Mozart. Immer aber
begibt er sich noch in die Jugendschule, treibt er noch
Selbsterziehung. Er möchte harmlos und ein Mann seiner Zeit sein;
möchte sich nicht um das Leben betrogen fühlen. Dieses Leben ist
ihm keineswegs ein Genuß; es ist ihm eher widerlich. Dieses Leben
aber ist das Material, das zu seinem Metier gehört. Es ist diejenige
Macht, die er meistern und ins Gleichgewicht setzen, die er
aufdecken und befreien, die er zum Vorbild sublimieren, die er aber,
um all dem entsprechen zu können, in die tiefste, wie immer
gequälte Seele aufnehmen muß, ehe er aussagen kann.
Es ist eine eigene Sache mit der Selbsterziehung. Sie sollte nicht
nötig sein. Thomas Mann hat in Paris beobachtet, daß die namhaften
Franzosen meist als Musterschüler gelten können und solche
gewesen sind. Ich weiß nicht, ob die Schule dort besser ist als in
Deutschland; es scheint fast so. Es könnte sein,
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