Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
daß die jungen
Leute weniger Widerstand finden; daß ihr Enthusiasmus mehr
getragen, daß die Absonderlichkeit leichter eingeordnet, mit einem
Wort, daß die Lehrer frischer, beschwingter, lebendiger sind. Der
Beruf des Schriftstellers ist wohl mehr anerkannt; der Bezug auf die
Gesellschaft ebenso. Eine Elite, die von Idealen getragen ist, scheint
dort mehr vorhanden, gegenwärtiger zu sein. All dies verbrückt den
Unterschied zwischen Begabung und Umwelt. Gestalten wie Rimbaud
sind dort Ausnahmen; bei uns sind sie fast die Regel. Wir haben
theoretisch ein Erziehungswesen, eine Reformbestrebung in
Permanenz, die hinter keinem Lande zurücksteht; aber das ist ein in
sich geschlossener Staat, der seine hochinteressanten Debatten
eigentlich beständig für sich und um der Übung willen betreibt.
Dieser Reformbestrebungsstaat scheint weit entfernt, in praxi einen
erheblichen Einfluß zu gewinnen oder gar eine Änderung zu
bewirken.
Gerade das Werk Hermann Hesses legt solche Bedenken nahe. Er
selbst berührt sie in »Unterm Rad«; aber er hat sie nicht
durchgeführt und nicht mehr aufgenommen. Sein Werk in der
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Gesamtheit entspricht heute jenem Buchtitel und birgt alle
Veranlassung, bei diesen Fragen ein wenig zu verweilen. Man wird
dann finden, daß seine Problematik typisch ist, und man wird auch
sehen, weshalb das Schweigen um diesen Dichter seit dem Kriege
von Jahr zu Jahr gewachsen ist. Hesses Werk, wie es heute sich
darbietet, erhebt dringender als je die Frage nach deutscher
Erziehung und Schule. In keinem Lande werden so viele
Erziehungsromane geschrieben wie hier. Unsere größten Dichter sind
Autodidakten gewesen. Ein großer Teil der Erziehungsbücher aber,
die jahraus, jahrein geschrieben werden, sagt nicht so sehr für das
Publikum, als für den Verfasser aus, der sich darin Rechenschaft gibt
oder verantwortet; der seine Konflikte mitteilt und seine
Schwierigkeiten bekennt, als könnten etwaige Freunde, die er mit
seinen Büchern wirbt, ihm helfen, Schwierigkeiten weiter zu lösen,
die die Schule zu lösen verabsäumt hat.
Ein Großteil dieser Konfessionen verfolgt durchaus nicht die Absicht,
die Lösung einer klar erkannten Frage vorzutragen und diese Lösung
in Einklang zu zeigen mit einer festen, zuverlässigen Überlieferung.
Sondern es zeigt sich meist, daß der Verfasser ganz neue,
phantastische Wege geht, ja daß er Umwege bevorzugt, um sich zu
unterscheiden; daß er Meinungen und Überzeugungen vertritt, die
nur für ihn gelten, und daß das Fazit seiner Kunst dem Volksganzen
unersichtlich bleibt. Man kann einwenden, daß es doch immerhin
etwas sei, Einblick in eine Seele zu erhalten; ihre Kämpfe und
Schwierigkeiten, ihre Irrwege einzusehen; aus ihrem Unglück zu
lernen und aus ihren Triumphen Trost zu schöpfen. Aber es bleibt
doch die andere dringende Frage offen, ob die Einbuße der Literatur
an Ansehen und Autorität nicht größer sei als das Glück, das sie
bringt. Ob nicht das Schreibwesen auf solche Weise zu jenem
Resultate führt, das wir heute überall wahrnehmen: nämlich zur
Despektierung des Dichters und Literaten und zur Despektierung des
geschriebenen Wortes. Was hilft es auch zu sehen, wie es der Autor
gemacht hat, wenn dieser Autor zum Schluß gestehen muß, er finde
sich nicht mehr zurecht? Oder wenn eine Stimme im großen Konzert
der andern widerspricht und ein Werk dem andern. Wer mag in der
Lektüre noch etwas anderes suchen als eine Unterhaltung?
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Wenn jemand unter den Heutigen ein Bekenner ist, so ist es
Hermann Hesse. Und wenn jemand seine Selbsterziehung mit
Strenge und Ernst betrieben hat, so ist er es. Er hat sein Leben
durchleuchtet bis in die letzten verborgenen Winkel; er hat ein
Bekenntnis abgelegt, das vom Glücksempfinden geistiger Triumphe
bis hinunter in die Hölle des Gewissens reicht. Diese Konfession aber
– das darf nicht verschwiegen werden –, sie wäre verwirrend in
manchem Widerspruche, sie wäre unheilvoll und bedrückend, wenn –
ja, wenn sie nicht ein so hohes Kunstwerk, eine Mythologie, wenn sie
nicht typisch wäre. Mit »Demian« hat Hesse den einzigartigen
Versuch begonnen, den Typus des Deutschen und Protestanten in
seiner eigenen Person zu erfassen und aufzulösen, in die Höhe und
die Tiefe, in die Fülle und die Glut, in die Kindlichkeit und den Orient.
Um diese Leistung aber zu ermöglichen, mußte er ebenso alle Wirrnis
und alles Unglück, alle »Immoral« und alle
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