Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
hierin löst Nietzsche den versöhnlicheren Goethe ab; fürs erste
71
wenigstens. Hesse vertritt einen leidenschaftlich zum Kult
gesteigerten Ästhetizismus. »Hatte ich nicht zuweilen an meinem
Stern gezweifelt, sagt Lauscher, und war geneigt, einigen
landläufigen Angriffen gegen die ästhetische Weltanschauung recht
zu geben? Ich weiß nun, daß meine Religion kein Aberglaube ist, daß
es sich lohnt, alle körperlichen und geistigen Dinge nur in ihren
Beziehungen zur Schönheit zu betrachten, und daß diese Religion
Erhebungen schenken kann, die an Reinheit und Seligkeit denen der
Märtyrer und Heiligen nicht nachstehen.« Eine interessante
Äußerung; denn sie zeigt, daß die Welt der Goethe und Nietzsche,
daß Ästhetizismus und Lebensart mit einer dritten Welt in Konflikt
geraten sind. Von Heiligen war schon einmal, weiter oben, die Rede.
Hesse hat den Sabatier und Bernoullis 1900 erschienenes Buch »Die
Heiligen der Merowinger« gelesen. Vielleicht kennt er auch des
Pietisten Arnold »Leben der Altväter und anderer gottseliger
Personen« schon; desselben Arnold übrigens, von dessen
»Ketzerhistorie« sich Goethe in den Katholizismus einführen ließ.
Und nun entscheidet sich Hesse dieser ihm neuen Welt gegenüber
völlig anders als seine beiden humanistischen Lehrer. Zwar findet er
einstweilen noch, daß diese wahrhaft Frommen »für uns Ästheten die
einzigen würdigen Feinde« sind. Warum? Weil sie allein »ebenso tief
wie wir die Abgründe des täglichen Lebens, das Leiden unter der
Gemeinheit, das Auf-Knien-Liegen vor dem Ideal; die Ehrfurcht vor
der Wahrheit und die schonungslose Konsequenz des Glaubens«
kennen. Den Nietzscheschen Gegensatz von Christ und Ästhet, von
Kreuz und Thyrsos, von Frömmigkeit und Schönheit teilt er also;
aber er sieht im frommen Gegenüber doch den Ebenbürtigen auf
einer anderen Linie. »Seit dem Untergang der Antike sind immer
diese beiden Wege über das Gemeine hinausgegangen, denn nach
meinem Gefühl ließen sich die Wege der Ästheten und der Christen
durchaus auch in der Geschichte der Philosophie nachweisen.«
Dank Sabatiers freierer Darstellung, und wohl auch dank der
Legende, der Dichtung, mag Hesse den Heiligen gegenüber weder
die indifferente Haltung Johann Wolfgangs teilen, noch jene völlig
intolerante Nietzsches, der hier nur Schauder und Grauen empfindet.
Auf seiner ersten Italienreise (1901) sieht Hesse die Toscana fast
völlig mit franziskanischen Augen; in Ravenna und Venedig befällt
72
ihn ein orientalisches Staunen vor den Asketengestalten der
byzantinischen Kunst. Im »Camenzind« belebt er Umbrien und
Assisi, ohne daß er noch dort gewesen wäre, während Goethe, als er
nach Assisi kommt, nur den Vitruv und den Palladio im Kopfe hat.
Der Name des heiligen Franziskus ist auffällig in Hesses frühen
Büchern. Auch in seiner Schreibweise, in seiner persönlichen
Schlichtheit, in seiner verhohlenen Symbolkraft mag man den Einfluß
des Poverello erblicken. Hesse hat seinem Vorzugsheiligen 1904
(entweder noch in Basel oder gleich in Gaienhofen) ein eigenes
Büchlein gewidmet. Er hat zwar auch den Boccaccio so bedacht, und
doch hebt das eine das andere nicht auf. Franziskus ist der Herold
des großen Königs. Er kommt, da er noch ein Dandy war, aus der
Schule der Troubadouren und schreibt ihren dolce stil nuovo, auf den
sich auch Hesse versteht. Franziskus ist in seinem (italienischen)
Sonnengesang ein Vokalalchimist, wie es bis zu Mallarmé und
Ungaretti keinen zweiten mehr gegeben hat.
Aber er ist, und für Hesse besonders, noch vieles andere. Er ist der
Schutzpatron der Goldammern und der braunen Hasen auf dem
Felde; der verunglückten Knulpleute und vielleicht sogar der Wölfe
auf dem Alverno. In Franziskus lebt für Hesse nicht zuletzt die
Brüdergemeinde seines Vaterhauses weiter. Dem »Camenzind« ist
zu entnehmen, daß der Dichter sich eine Zeitlang sogar damit trug,
eine »Geschichte der Minoriten« zu schreiben. Es ist dies heute eine
Reminiszenz an Basler Geschichtsstudien, aber sie zeigt doch, wie
tief der junge Hesse in das hagiographische Gebiet eindrang. Zu
denselben Studien gehört auch die Lektüre des Cäsarius von
Heisterbach und der »Gesta Romanorum«.
Gegen das Ende seines Basler Aufenthaltes befindet sich Hesse auf
dem Weg einer Verbrückung der protestantisch-katholischen
Gegensätze. Der Ausgleich liegt im romantischen Ideal. Die
Romantiker kamen ja zum großen
Weitere Kostenlose Bücher