Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Naturbeobachtung, für solche ideographische
Kunst von Haus aus eine besondere Schule und Eignung mit. Er ist
schon in frühester Kindheit, und mit welch unerbittlicher Strenge,
gewöhnt worden, jede kleinste Verrichtung, jedes aufsteigende
Gefühl und auch die alltäglichste Wahrnehmung ununterbrochen auf
einen jenseitigen Sinn, auf den Endzweck menschlichen Bemühens,
auf eine letzte zarte Verantwortung, auf das »Gericht des Lammes«
hin, wenn ich so sagen darf, zu bewachen, zu kontrollieren. So
bestimmen die Farbspiele und Formglieder von Faltern und Blumen
seine Wortwahl, seine Syntax. Es duftet von Früchten, auf die
hundertzwanzig Mal an wohlgezählten Tagen die Sonne fiel. Es flutet
ein Wein, der grün im Geäste hing manche geängstigte Mondnacht.
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Es ist da ein Wissen, das unterdrückt wird, und doch fällt es ein.
Gottfried Keller soll bestritten haben, daß die Poesie aus der Religion
hervorging. Ich möchte aber sehen, wo die Dichter bleiben, wenn die
Sakramente fallen.
Will man das Gaienhofener Leben auf einen Nenner bringen, so
könnte man sagen: was die alemannischen Freunde dort suchen, das
ist ein gleichwohl sehr christlich gefärbtes Heidentum; eine
Konkordanz von Natur und Frömmigkeit; eine Oberhoheit der weit
geöffneten wachsamen Augen über die Bilder ringsum. Von diesem
»Kult der Sinne« ist nur das Frauenbild ausgenommen, und darin
sind die romantischen Schwaben sehr anders geartet als etwa die
Anakreontiker und die Leute der Rokokozeit; bei denen war es
gerade umgekehrt. Das Bild der Frau wird nicht mit derselben
Energie, mit derselben nüchternen Strenge erfahren wie etwa eine
Pflanze, ein Tier. Auch die eigene Person nicht; die Abneigung gegen
Menschen betrifft auch das eigene Selbst. Man läßt zwar die Kinder
nicht taufen, die Ehe nicht segnen; das menschliche Urbild gilt vom
natürlichen nicht als verschieden. Aber man ist in Dingen, die das
kreatürliche Leben der Frau betreffen, weit entfernt von der Realistik
etwa des Mittelalters. In diesem Punkte ist man nicht homerisch;
nicht heidnisch. In diesem Punkte ist man Illusionist und gleicht man
ein wenig dem Manne im Mond, der seine Reinheit versichert.
Man lese Finckhs »Rosendoktor«, wo der Liebhaber treuherzig vor
der eigenen Zimmertür schläft, während die Geliebte, die ihn
aufgesucht hat, sein Bett hütet (für Goethe und gar für Cervantes
und Boccaccio ein Schwank; für Stendhal eine Erklärung der
darauffolgenden Entfremdung und Hysterie; für Strindberg ein
metaphysisches Grauen, für Wedekind eine Grimasse). Doch man
vergleiche auch Hesse (»Schön ist die Jugend«, »Cyklon«), wo ein
hereinbrechender Hagelsturm und heftige Leidenschaft zugleich
einem Jungen das Mädchen in die Arme treiben. Sie preßt sich
liebkosend an ihn, während die Umwelt tobt; der Sturm macht sie
kühn. Der Dichter will zeigen, wie dieser doppelte Orkan die
bisherige Landschaft zertrümmert und die ersten Knabenjahre mit all
den vertrauten äußeren Bildern begräbt. Der Jüngling, halb schon in
den Sturz gerissen, findet sich mit folgenden Worten: »Mein Blut war
stiller geworden, und ich litt Qualen der Scham darüber, diese da zu
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meinen Füßen knien zu sehen, welcher ich nicht gewillt war, meine
Jugend und meinen Stolz hinzugeben.« Man kann sagen: das ist der
Gipfel der Zartheit; es genügt der Versuch der Verführung, um die
Knabenjahre versinken zu lassen. Man könnte indessen auch sagen,
daß Hesse kaum ein zweites Mal einen so wackligen Satz
geschrieben und daß bei Grillparzer solche Art der Verhaltenheit zu
jener Perversion führt, die ihn in seinen Tagebüchern das Verhältnis
zu seiner »ewigen Braut« bewußt als Quälerei genießen läßt.
Das Heidentum der beiden Dichter ist kein vollkommenes, und das
ist schön und lieb. Aber von Harmonie im eigentlichen Sinne kann
man dabei nicht sprechen. Jene »bürgerliche Epoche« in Hesses
Leben war vielleicht die von der Harmonie entfernteste. In jedem
geborenen Epiker steckt ein gut Teil vom Schauspieler und
Sophisten. Das war bei Hesses damaligen Mustern, bei Goethe und
Keller, so, die beide eine heftige Neigung zur Bühne empfanden. Das
war bei Mörike nicht anders, und selbst ein so verwöhnter Geist wie
Herman Bang hat dem Theater seinen Tribut gebracht; sogar dem
Vorstadt- und Wandertheater. Auch bei Hesse ist die mimische
Veranlagung durchaus vorhanden, wenn auch sehr zurückgedrängt,
sehr unter Zwang
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