Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Mutter geprüft
und an sich gebracht. Nur freier ist er nicht geworden. Nur wird er
jetzt doppelt die Enge und seine Verstrickung empfinden.
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Demian
Bei Kriegsausbruch 1914 befindet sich Hesse in einer seelischen
Verfassung, die patriotischen Begeisterungen denkbar ungünstig ist.
Er hat 1912, nach seiner Rückkehr aus Indien, das Haus des Malers
Albert Welti in Ostermundigen bei Bern gemietet. Das mittelalterliche
Stadtbild Berns, das demjenigen Basels in manchen Stücken
verwandt ist, hatte, als man die Einsamkeit von Gaienhofen
aufzugeben entschlossen war, einen Vorzug gegenüber dem
mondänen Zürich. Das altmeisterliche Milieu des Welti-Hauses läßt
den Dichter, der schon früher dort zu Besuchen weilte, in seinem
Roman »Roßhalde« selbst als Maler (Johannes Veraguth) erscheinen.
Stärker aber als zur Malerei ist in Bern zunächst noch sein Verhältnis
zur Musik.
Des Dichters Gattin ist nicht nur eine vorzügliche Chopin-Spielerin;
die Musik ist ihr, bis in wahnhafte Gründe hinein, zur zweiten Natur,
zur Lebensart geworden. Da ist ferner Othmar Schoeck, ein Reger-
Schüler, dessen Klangbegabung die schweizerischen Heimatgrenzen
weit überfliegt. Er vertont Eichendorff, Mörike, Lenau, und das sind
für ihn nicht antiquierte Literaturgrößen, sondern das ist er selbst in
so ursprünglichem, direktem Bezug, wie es nur in der Schweiz
vielleicht noch möglich ist. Er hat nicht nur die Zartheit des Lyrikers,
sondern auch die Gewalt der Tragödie. Er wird Kleists »Penthesilea«
bearbeiten und sich damit eines Tages in Dresden eine Bresche
schlagen in die vorderste Reihe der deutschen Musiker. Er hat die
schönsten Lieder Hesses vertont (»Ravenna«, »Frühling«,
»Elisabeth«, »Kennst du das auch?«), und beide Künstler verbindet
die Überzeugung, daß es die Melodie ist, die den Musikanten
ausmacht.
Zu den Berner Freunden gehört ferner Fritz Brun, der Dirigent des
Stadtorchesters und der Sinfoniekonzerte. Und wenn man nach
Zürich fährt, so trifft man dort den Meister Andreae, sei es, daß er in
der Tonhalle dirigiert oder neue Talente entdeckt in dem von ihm
geleiteten Konservatorium. Und man kann sowohl in Bern wie in
Zürich, aber auch in Berlin, in Stockholm und Budapest die Durigo
das »Ravenna«-Lied singen hören, das verschwiegene Siegellied
unter Hesses Gedichten, eine Reminiszenz seiner ersten Italienreise:
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Ich bin auch in Ravenna gewesen,
Ist
eine
kleine
tote
Stadt,
Die Kirchen und viele Ruinen hat,
Man kann davon in den Büchern lesen.
Du gehst hindurch und schaust dich um,
Die Straßen sind so trüb und naß
Und sind so tausendjährig stumm,
Und überall wächst Moos und Gras.
Das ist wie alte Lieder sind –
Man hört sie an und keiner lacht
Und jeder lauscht und jeder sinnt
Hernach daran bis in die Nacht.
Und wenn die Durigo das singt mit einer schwebenden Stimme, in
die sich die Flügel von Möwen mischen, dann ist man gewiß in
Ravenna gewesen und kennt die deutenden Goldfinger der Asketen
und auch die Lasterglut, die beide hinter der Zeit versinken, und wird
traurig über die Öde und verstört über die Leere der Gegenwart, in
der man wieder erwacht.
Und da hat Hesse in Bern noch einen andern Freund, der keinen
Namen hat, der aber nicht fehlen darf: den städtischen Oberförster,
einen Verehrer von Gaienhofen her. Dieser Mann verwaltet den
Berner Stadtforst und wird für Hesse zu einer mythischen Figur.
Denn es scheint mitunter in dieser ersten Berner Zeit, als habe sich
der Dichter in seinem eigenen Zauberwalde verirrt und bedürfe eines
Fachmannes, der die Bäume und Pfade kennt; der ein gewiegter
Forstmann und Wäldler ist, einer von denen, die man im Spessart
auch finden kann; die lange und gut zu schweigen wissen und die
sehr außerhalb, sehr jenseits leben. Und es ist in jener Zeit mitunter,
als habe das totentänzerische Werk des Albert Welti den Dichter in
seinen Reigen geschlungen. Man übernachtet nicht unberührt in
einem Gespensterhause. Man wird aufgestöbert werden um
Mitternacht von den unerlösten Seelen, die da umgehen.
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Um es geradezu zu sagen: der Dichter Hermann Hesse lebt, als der
Krieg
ausbricht,
in
einer
todesseligen
Trunkenheit;
in
Widerspruchsgefühlen, die nicht mehr zu unterscheiden sind,
zerfleischt von einem dunklen Traumleid, dem er nachhängt, und
zugleich von den Dissonanzen seines familiären Lebens. Seit seinem
sechsten oder siebenten Jahre hat er, wie es
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