Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
gehalten. Um nicht mißverstanden zu werden: ich
meine jene Fähigkeit und Begabung, die Dinge und die Erlebnisse
von mehreren Seiten zu sehen, und meine jenen Reichtum einer
Verwandlungskraft, die immer neue Gestaltungen und Inkarnationen
eingeht und ihren Inhalt wieder an sich zieht, um andere
Verkörperungen aufzustellen. Hesse dichtet im »Lauscher«:
Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen
Bemalten Masken allzugut zu spielen
Und
mich
und
andre
allzugut
Zu täuschen lernte. Keine leise Regung
Zuckt in mir auf und keines Lieds Bewegung,
In der nicht Spiel und Absicht ruht.
Solche Begabung, meine ich, ist der Harmonie nicht günstig.
Dazu aber kommt noch etwas anderes. Der Dichter, abgezogen und
aufgezehrt von der Suche nach Ideogrammen und Zeichen, scheint
zeitweise das ihn leitende Thema verloren zu haben. Heute ergibt
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sich der Sinn seines Gaienhofener Aufenthaltes; damals aber war er
Hesse kaum ersichtlich. Harmonisch könnte man sein, wenn man die
eigenen Konflikte zu Gesicht und in Distanz bekäme; wenn man
lebendigen Anteil hätte an den Konflikten der andern. Aber weder die
einen noch die andern treten greifbar hervor. Alle Welt lebt ein
Mimikry, eine Anpassung, ein Provisorium. Die wilhelminische Ära
und der moderne Mechanismus haben dem Leben eine Zwangsjacke
und einen Panzer angelegt. Den Brunnen der schönen Lau
verschließt ein solider Deckel aus Zement. Bevor jener Panzer
zerstört und dieser Deckel gehoben ist; bevor die verschnürte
Gestalt des Menschen sich wieder zu regen vermag –: was sollte
einer von sich selber zu Gesicht bekommen, da er sich nicht
vergleichen kann?
»Aus lauter innerer Not« tritt Hesse 1911 eine Reise nach Indien an.
Es ist merkwürdig genug: er selbst scheint im unklaren, weshalb er
reist. Die Exotik lockt ihn nicht. Der Bodensee gibt ihm alles, wessen
er an Natur bedarf. Die Szenerien und die Kulte dort in Sumatra,
Hinterindien und Ceylon enttäuschen ihn, da er sie sieht. Das
europäische Maß ist ihm so tief eingesenkt, daß es durch die bizarren
Architekturen nicht verrückt werden kann. In Kandy fällt ihm vor
einem buddhistischen Felsentempel unwillkürlich Assisi ein, »wo in
der großen, leerstehenden Oberkirche Giottos Franzlegenden die
Wände bedecken«. Er sieht einen riesigen liegenden Buddha, und
sogleich ist auch die kleine gotische Kapelle eines elsässischen
Dorfes da, wo im halben Lichte ein riesengroßer, geschnitzter
Christus schwebt, »am Kreuz mit roten, grimmigen Wunden und mit
blutiger Stirn«. In einem »Singapur-Traum« lächelt das goldene
Bildnis Buddhas des Vollendeten, und wieder lächelt es, und »es war
das reife, schmerzliche Lächeln des Heilands«. Es klingt wie in der
pädagogischen Provinz der Goetheschen Wanderjahre, wo der
Dichter den Mann am Kreuze ebenfalls sehr wohl kennt, aber ihn nur
hinter Schleiern, nur als Geheimkult, nur als Idol für Eingeweihte will
gelten lassen.
Warum also trat Hesse diese Reise an? Vielleicht, um die Heimat
seiner Mutter zu sehen. Vielleicht, um die indischen Träume seines
Vaterhauses zu widerlegen. Vielleicht, um die letzte quälende
Bindung an Vater und Mutter zu lösen; denn all deren Gedanken und
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Träume gingen ja um das Wunderland. Vielleicht auch empfindet der
Dichter ein indisches Traumleiden als Ursache der Dissonanzen in
seiner Ehe. Vielleicht hofft er, einer Zerrissenheit ledig zu werden
und geheilt vom Alpdruck seiner Beängstigungen zurückzukehren.
Manche Einzelheit seines Buches »Aus Indien« deutet darauf hin, daß
er müde reist und enttäuscht zurückkommt. Indien hat ihn nicht
befreit. Die Tropen haben seinen Gesichtskreis erweitert, seine
Fassungskraft gestählt. Er hat versunkene Kindheitsbilder
aufgefrischt und einen Einblick gewonnen, der ihn die europäischen
Händel in größerem Abstand erblicken läßt. Die Reise aber hat ihn
nicht befreit; ihn persönlich nicht weitergebracht. Im »Singapur-
Traum« hält sich eine bittere Ironie an den schwäbischen Theologen
schadlos, die sie von Kulis gewalkt und geprellt werden läßt. In der
Novelle »Robert Aghion« zeigt er die unschuldige Seele eines
Missionskandidaten, der mit dem Schmetterlingsnetz in Bombay
ankommt, durch die indischen Wirklichkeiten aber bald bekehrt, das
heißt seinem frommen Berufe völlig entfremdet wird. Der
schwärmerische Indienkult aus dem Elternhaus ist dem Dichter
zerstoben. Er hat den Zauber des Vaters und auch der
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