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Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk

Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk

Titel: Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugo Ball
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gehalten. Um nicht mißverstanden zu werden: ich
    meine jene Fähigkeit und Begabung, die Dinge und die Erlebnisse
    von mehreren Seiten zu sehen, und meine jenen Reichtum einer
    Verwandlungskraft, die immer neue Gestaltungen und Inkarnationen
    eingeht und ihren Inhalt wieder an sich zieht, um andere
    Verkörperungen aufzustellen. Hesse dichtet im »Lauscher«:
    Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen
    Bemalten Masken allzugut zu spielen
    Und
    mich
    und
    andre
    allzugut
    Zu täuschen lernte. Keine leise Regung
    Zuckt in mir auf und keines Lieds Bewegung,
    In der nicht Spiel und Absicht ruht.
    Solche Begabung, meine ich, ist der Harmonie nicht günstig.
    Dazu aber kommt noch etwas anderes. Der Dichter, abgezogen und
    aufgezehrt von der Suche nach Ideogrammen und Zeichen, scheint
    zeitweise das ihn leitende Thema verloren zu haben. Heute ergibt

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    sich der Sinn seines Gaienhofener Aufenthaltes; damals aber war er
    Hesse kaum ersichtlich. Harmonisch könnte man sein, wenn man die
    eigenen Konflikte zu Gesicht und in Distanz bekäme; wenn man
    lebendigen Anteil hätte an den Konflikten der andern. Aber weder die
    einen noch die andern treten greifbar hervor. Alle Welt lebt ein
    Mimikry, eine Anpassung, ein Provisorium. Die wilhelminische Ära
    und der moderne Mechanismus haben dem Leben eine Zwangsjacke
    und einen Panzer angelegt. Den Brunnen der schönen Lau
    verschließt ein solider Deckel aus Zement. Bevor jener Panzer
    zerstört und dieser Deckel gehoben ist; bevor die verschnürte
    Gestalt des Menschen sich wieder zu regen vermag –: was sollte
    einer von sich selber zu Gesicht bekommen, da er sich nicht
    vergleichen kann?
    »Aus lauter innerer Not« tritt Hesse 1911 eine Reise nach Indien an.
    Es ist merkwürdig genug: er selbst scheint im unklaren, weshalb er
    reist. Die Exotik lockt ihn nicht. Der Bodensee gibt ihm alles, wessen
    er an Natur bedarf. Die Szenerien und die Kulte dort in Sumatra,
    Hinterindien und Ceylon enttäuschen ihn, da er sie sieht. Das
    europäische Maß ist ihm so tief eingesenkt, daß es durch die bizarren
    Architekturen nicht verrückt werden kann. In Kandy fällt ihm vor
    einem buddhistischen Felsentempel unwillkürlich Assisi ein, »wo in
    der großen, leerstehenden Oberkirche Giottos Franzlegenden die
    Wände bedecken«. Er sieht einen riesigen liegenden Buddha, und
    sogleich ist auch die kleine gotische Kapelle eines elsässischen
    Dorfes da, wo im halben Lichte ein riesengroßer, geschnitzter
    Christus schwebt, »am Kreuz mit roten, grimmigen Wunden und mit
    blutiger Stirn«. In einem »Singapur-Traum« lächelt das goldene
    Bildnis Buddhas des Vollendeten, und wieder lächelt es, und »es war
    das reife, schmerzliche Lächeln des Heilands«. Es klingt wie in der
    pädagogischen Provinz der Goetheschen Wanderjahre, wo der
    Dichter den Mann am Kreuze ebenfalls sehr wohl kennt, aber ihn nur
    hinter Schleiern, nur als Geheimkult, nur als Idol für Eingeweihte will
    gelten lassen.
    Warum also trat Hesse diese Reise an? Vielleicht, um die Heimat
    seiner Mutter zu sehen. Vielleicht, um die indischen Träume seines
    Vaterhauses zu widerlegen. Vielleicht, um die letzte quälende
    Bindung an Vater und Mutter zu lösen; denn all deren Gedanken und

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    Träume gingen ja um das Wunderland. Vielleicht auch empfindet der
    Dichter ein indisches Traumleiden als Ursache der Dissonanzen in
    seiner Ehe. Vielleicht hofft er, einer Zerrissenheit ledig zu werden
    und geheilt vom Alpdruck seiner Beängstigungen zurückzukehren.
    Manche Einzelheit seines Buches »Aus Indien« deutet darauf hin, daß
    er müde reist und enttäuscht zurückkommt. Indien hat ihn nicht
    befreit. Die Tropen haben seinen Gesichtskreis erweitert, seine
    Fassungskraft gestählt. Er hat versunkene Kindheitsbilder
    aufgefrischt und einen Einblick gewonnen, der ihn die europäischen
    Händel in größerem Abstand erblicken läßt. Die Reise aber hat ihn
    nicht befreit; ihn persönlich nicht weitergebracht. Im »Singapur-
    Traum« hält sich eine bittere Ironie an den schwäbischen Theologen
    schadlos, die sie von Kulis gewalkt und geprellt werden läßt. In der
    Novelle »Robert Aghion« zeigt er die unschuldige Seele eines
    Missionskandidaten, der mit dem Schmetterlingsnetz in Bombay
    ankommt, durch die indischen Wirklichkeiten aber bald bekehrt, das
    heißt seinem frommen Berufe völlig entfremdet wird. Der
    schwärmerische Indienkult aus dem Elternhaus ist dem Dichter
    zerstoben. Er hat den Zauber des Vaters und auch der

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