Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
klingelt an der Tür, und Jacques rappelt sich auf, um zwei Handwerker hereinzulassen. »Halloo, naa, dann wolln wir mal«, sagt einer von ihnen mit einem breiten Südstaatenakzent.
»Was macht denn der Mann? Sag schon, was hat er vor?«, fragt Doris ängstlich und sieht sich wachsam nach den vermeintlichen Eindringlingen um.
»Sie reparieren die Klimaanlage. Vielleicht ist dir aufgefallen, wie warm es ist? Sie ist ausgefallen«, erklärt Jacques beschwichtigend.
»Ich muss sofort hoch. Was machen die da oben?« Doris hat die Handwerker die Treppe hochgehen sehen und scheint kurz davor, in Panik auszubrechen.
»Reparieren die Klimaanlage«, wiederholt Jacques geduldig.
»Sollte ich nicht lieber nachsehen?«
»Ja, meinetwegen, ja!«
Am Fuß der Treppe dreht sich Doris noch einmal um. »Was sollen sie reparieren?«, fragt sie.
»Die Kli-ma-anlage!!«
Ja, Alzheimer ist eine grausame Krankheit, aber Jacques und Doris scheinen sich in ihrer ureigenen Sitcom-Serie ganz gut eingerichtet zu haben. Er geht auf sie ein, solange er kann, und sie liefert mit dem resoluten Charme einer jüdischen Mame eine absurde Pointe nach der anderen. Lungenkrebs, neurodegenerative Erkrankungen und Holocaustüberlebende– bei Jacques und Doris wirkt all das irgendwie halb so tragisch.
Mit dem »Anschluss« stieg der Druck auf die Familie Benbassat in Wien. Albert Benbassat hatte sich mit fünf Mehrfamilienhäusern ein beachtliches Immobilienvermögen aufgebaut, doch der »Anschluss« hatte nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen. Unternehmen wurden der Kriegswirtschaft einverleibt oder mussten nationalsozialistischen Richtlinien genügen. Wenige Monate nach dem »Anschluss« waren bereits 50 Prozent aller jüdisch geführten Unternehmen unfreiwillig aufgelöst worden. 60 Die Benbassats verloren alle ihre Mietshäuser und behielten nur eine Villa am Stadtrand. Die »Nazi-Hypothekenbank«, wie Jacques sie nennt, annullierte einfach ihre Hypotheken. Aufgrund des bedrohlichen politischen und sozialen Klimas und weil Albert Göring ihnen dazu riet, zogen die Benbassats ins nazifreie Bukarest.
Bukarest hatte für die Benbassats den zusätzlichen Vorteil, dass ihr Beschützer immer in der Nähe war, denn auch Albert Göring lebte inzwischen dort. Jacques erinnert sich: »Das war uns eine große Stütze und sehr solidarisch von ihm, dass wir immer wussten, im Falle eines Falles ist jemand da.« Diese neugewonnene Sicherheit ermöglichte es Jacques endlich, so etwas wie eine Kindheit nachzuholen. Er erinnert sich an die Wasserrutschen und das Wellenbecken eines Erlebnisbads, das er gern besuchte. Interessanterweise war dieses Erlebnisbad von Albert Göring selbst entworfen worden. Er schuf damit möglicherweise das erste Erlebnisbad Europas, wenn nicht gar der Welt.
Und dann gab es noch etwas, womit Albert Göring den Benbassats das Leben leichter machte. Jacques’ Stiefvater hatte vor dem »Anschluss« eine große Sammlung seltener, wertvoller Bücher besessen, »all die großen Klassiker«. Sobald er lesen gelernt hatte, verschlang Jacques dieseBücher mit großem Genuss. Doch eines Tages stattete der Vertreter einer großen deutschen Buchhandelsfirma der Familie in Wien einen Besuch ab und wollte ihnen den gesamten Bestand für einen Bruchteil seines Werts abkaufen. Da die Firma der NSDAP nahestand und Albert Benbassat die Sicherheit seiner Familie nicht für eine Büchersammlung aufs Spiel setzen wollte, so kostbar sie auch sein mochte, blieb ihm nichts übrig, als das Angebot anzunehmen.
Einige Monate darauf, in Bukarest, hörte Albert Göring von diesem Übergriff und beschloss, sofort zu handeln. Er setzte sich mit der rumänischen Niederlassung jener Buchhandelsfirma in Verbindung und verlangte die Bücher wie selbstverständlich zurück. »Göring sagte: ›Was haben Sie bezahlt?‹ – ›Einhundert [Reichsmark].‹ – ›Ich kaufe Sie Ihnen für hunderteins wieder ab.‹ Sie haben es nicht gewagt, nein zu sagen«, erzählt Jacques. »Und sofort stand ein Lastwagen voller Bücher vor der Tür. Wir hatten einen begehbaren Kleiderschrank, der wurde bis unter die Decke mit Büchern vollgestellt. Das war eine echte Entdeckung für mich, ich verbrachte dort Stunden, ganze Tage mit meinen Büchern.«
Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis das politische Klima auch in Bukarest unerträglich wurde. Aufgrund immenser Gebietsverluste und der ständigen Bedrohung durch die Rote Armee geriet die Regierung
Weitere Kostenlose Bücher