Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
nicht widerstehen konnten. Dass sie dreimal von Taschendieben bestohlen worden war: Einer davon war ein Junge gewesen, kaum älter als sie selbst damals.
Irgendwann gähnte sie derart, dass Brenda meinte: »Okay, jetzt haben wir sie genug ausgefragt. Charlie, du gehörst ins Bettmit deinem Jetlag. Wie viel Stunden warst du unterwegs? Sieben? Acht?«
»Keine Ahnung«, musste Charlotte zugeben. Sie folgte Brenda die Treppe hoch ins Gästezimmer. Hier war sie zum ersten Mal. Bei ihrem letzten Besuch im Hause Wickersham hatte noch die Programmiererin den oberen Stock bewohnt, die immer nur »Guten Tag« gesagt hatte, wenn man ihr begegnete, und sonst nichts.
Es war ein hübsches Zimmer, geschmackvoll in Grün und Weiß eingerichtet. Direkt vor dem Fenster stand ein Baum, dessen Zweige an der Fensterscheibe kratzten. Brenda wünschte ihr eine gute Nacht. Danach zerrte Charlotte ihren Pyjama und ihre Zahnbürste aus dem Koffer, der schon dastand – wer hatte den eigentlich hochgetragen? –, und an mehr erinnerte sie sich nicht, als sie am nächsten Morgen aufwachte.
Das Fenster war hochgeschoben, sie hörte Vögel zwitschern, und es war noch nicht richtig hell. Im Haus herrschte Stille. Wie spät war es? Sie suchte ihre Armbanduhr, fand sie nirgends. Früh jedenfalls. Der Jetlag. Sie war hellwach, würde nicht mehr einschlafen.
Sie setzte sich auf, sah sich um. Versuchsweise legte sie die Hand auf die Holztäfelung hinter ihrem Bett, die alt aussah und bestimmt schon immer hier gewesen war. Sie schloss die Augen, versuchte zu erspüren, was darin an Geschichte gespeichert lag. Sie musste eine ganze Weile still sein und warten, bis sich erste Bilder herausschälten, Erinnerungen, Gefühle. Sie spürte Einsamkeit, Sehnsucht nach jemandem, der wartete, in Chicago. Ein Freund? Ein Ehemann? Nein – eine andere Frau, erkannte Charlotte verblüfft. Die Programmiererin war in eine andere Frau verliebt gewesen. Eine heimliche Affäre? Oder eine unerwiderte Liebe? Sie konnte es nicht erkennen.
Seufzend nahm sie die Hand wieder weg. Es ließ nach. Was sich früher angefühlt hatte wie ein Konzert, war heute nur noch ein fernes Raunen, ein Durcheinander weit entfernter, kaum zu verstehender Stimmen und Gefühle. Als Kind hätte sie die ganzeLebensgeschichte der schweigsamen Frau aus diesen Wänden lesen können – allerdings das meiste davon nicht verstanden. Mit ihrer heutigen Lebenserfahrung war das anders, aber dafür hatte die Kraft ihres geheimnisvollen Sinnes nachgelassen.
Vielleicht, überlegte Charlotte, während sie ihren Koffer aufklappte und das Nötigste in Schubladen und Regalfächer verteilte, war das ein Schutzmechanismus, den sie im Lauf ihres Lebens ausgebildet hatte. Als Kind war ihr diese Flut fremder Gefühle, Erinnerungen und Bilder oft zu viel gewesen. Offen, wie sie war, hatte sich Charlotte zugleich immer verletzlich gefühlt. Diese Leidenschaft, mit der sie Museen, Gedenkstätten und dergleichen aufgesucht hatte! Das war ihr Äquivalent einer Geisterbahnfahrt gewesen. Aber vielleicht war es ihr nicht einfach nur um die besonderen Kicks gegangen. Bestimmt hatte sie auf diese Weise instinktiv versucht zu lernen, mit ihrer Gabe umzugehen.
Sie setzte sich auf ihr Bett, strich mit der Hand über die bestickte Überdecke, spürte die Hingabe, mit der Brenda daran gearbeitet hatte. Brenda, die nun ein Baby hatte. Charlotte versuchte sich an ihre eigene Kleinkinderzeit zu erinnern. Da war fast nichts. Seltsam sei sie gewesen, pflegte ihre Mutter zu erzählen, und was das anbelangte, gab es niemanden in der Verwandtschaft, der ihr widersprach. Charlotte selbst erinnerte sich nur an einzelne Momente, die sie nicht einordnen konnte, die sich merkwürdig zeitlos anfühlten. Tote und Lebende waren zugleich um sie herum gewesen, und oft hatte sie nicht zwischen fremden und eigenen Gedanken unterscheiden können.
Letzten Endes war sie auch deshalb vor drei Jahren aus Boston weggegangen, weil sie schmerzliche Erinnerungen mit diesem Ort verband. Für sie war das gravierender als für die meisten Menschen. Sie hätte es nicht ausgehalten hierzubleiben.
Aber sie konnte doch nicht immer fliehen, wenn ihr etwas Unangenehmes widerfuhr! Irgendwann würde auf diese Weise die ganze Erde für sie unbewohnbar geworden sein, und dann?
Vielleicht war es ein Segen, dass ihre Gabe allmählich versiegte.
Die Tage bis zur Taufe am Sonntag vergingen in beständig anschwellender Geschäftigkeit. Charlotte half in der Küche,
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