Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
beim Dekorieren des Festsaals, bei der Wäsche. Sie genoss es, im Familientrubel aufzugehen. Ständig tauchten neue Gäste auf. Manche sagten nur Hallo, bewunderten das Baby und zogen weiter in ihre Hotels, andere hockten erstmal stundenlang auf der Terrasse und redeten. Die Kaffeemaschine kam nicht zur Ruhe.
Auf dieser Terrasse lernte Charlotte einen gewissen Adrian Cazar kennen, der zusammen mit Brenda an der BU studiert hatte, Klimatologie allerdings. Brenda und er hatten sich in einem Kurs für Webdesign kennengelernt und später gemeinsam eine Website zum Thema globale Erwärmung entwickelt: sie das Design, er die Inhalte.
»Also, der letzte Winter in Paris war unglaublich kalt. Irgendwann hat man gedacht, das mit dem Schnee hört überhaupt nicht mehr auf«, meinte Charlotte, die es gerade juckte, jemanden zu provozieren. »Und im Sommer hab ich auch nur gefroren. Ich weiß nicht, ob das nicht bloß eine Legende ist mit dieser globalen Erwärmung.«
Adrian blieb gelassen. »In Europa funktioniert das anders, wegen des Golfstroms. Wenn der Rest der Welt verschmachtet, kriegt Ihr erst mal eine Eiszeit.«
Er war ein attraktiver dunkler Typ. Er erinnerte sie an einen Filmschauspieler, der in irgendeinem Piratenfilm die ziemlich durchgeknallte Hauptrolle gespielt hatte, dessen Name ihr aber gerade nicht einfiel.
»Eine Eiszeit?« Sie hatte immer noch Lust, ihn zu provozieren. »Ich glaube, du willst dich nur rausreden.«
Adrian grinste, musterte sie aus seinen tiefschwarzen Augen. »Nein, im Ernst: Ein einzelner kalter Winter oder ein einzelner heißer Sommer, das hat nichts zu bedeuten. Solche Auf undAbs hat es schon immer gegeben, und es wird sie auch weiterhin geben. Das Problem ist, dass die Durchschnittswerte ansteigen. Langsam, aber unaufhaltsam. Ernsthaft bemerkbar macht sich das bis jetzt nur in echten klimatischen Extremzonen – am Polarkreis, in den Wüsten, in empfindlichen Trockengebieten. Dort verändert sich die Natur irreversibel.« Ein plötzlicher Windstoß wirbelte eine Handvoll gelbbrauner Blätter auf sie herab, als wolle er Adrians Behauptungen zustimmen.
»Und wir sind daran schuld? Mit unseren Abgasen und so weiter?«
»Möglich«, sagte Adrian. »Unsere Emissionen klimaaktiver Substanzen würden den Anstieg der Temperaturen erklären. Was sie nicht erklären können, ist, warum es auch in der Vergangenheit schon Warmzeiten gegeben hat, lange vor der ersten menschlichen Hochkultur. Deswegen bleibt es umstritten, ob wir wirklich auf das globale Klima Einfluss haben, oder ob wir uns das bloß einbilden.«
Charlotte fiel das Messer auf dem Altar wieder ein, ihr Sturz in den Abgrund der Zeit und diese seltsame innere Gewissheit seither, dass es schon einmal eine Menschheit gegeben haben musste, mindestens eine. Ihre Lust, Adrian zu provozieren, löste sich auf. Sie hörte aufmerksam und ernsthaft zu, während er von seinem Projekt erzählte, eine Expedition zu einer Polarinsel durchzuführen, um die Auswirkungen des Temperaturanstiegs zu studieren.
»Ähnliche Untersuchungen gibt es natürlich schon«, erklärte er. »Aber dabei war immer die Frage, wie sich die bestehende Flora und Fauna verändert, wenn der Frühling eher einsetzt, die Höchsttemperaturen höher liegen und so weiter. Mich dagegen interessiert etwas anderes. Ich würde gern auf eine Insel gehen, die bisher vollständig von Eis bedeckt war, seit Hunderttausenden von Jahren – und die nun infolge der globalen Erwärmung diesen Eisschild verliert. Was geschieht dann? Wie erobert die Natur diesen Lebensraum zurück? Was für Pflanzen, was für Tiere siedeln sich als Erste an? Und so weiter.« Er nahm einenSchluck Kaffee und verzog das Gesicht, weil er inzwischen kalt geworden war. »Das könnte interessante Aufschlüsse darüber geben, was zum Ende der Eiszeiten eigentlich genau passiert ist.«
»Klingt faszinierend«, meinte Charlotte und hatte plötzlich Lust, endlich auch einmal an einer Expedition teilzunehmen. Hatte sie das nicht von Anfang an gewollt? Stattdessen hatte sie die Jahre in Harvard in staubigen Seminarräumen zugebracht. »Wann geht es los?«
Adrian lachte wehmütig auf. »Oje! Du glaubst nicht, was für so eine Expedition an Vorbereitungen nötig ist. Unglaublich. Endlose Gespräche mit Geldgebern, Berge von Papierkram, tausend fruchtlose Telefonate … Bis jetzt weiß ich noch nicht einmal, welche Inseln überhaupt infrage kommen.«
»Falls du eine Paläoanthropologin dabeihaben willst … okay,
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