Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Hinter ihm schlossen sich die Türen wieder.
UNTERWEGS
B oston tauchte unter ihr auf. Von oben aus gesehen schien sich die Stadt nicht verändert zu haben. Wie lange war es jetzt her? Drei Jahre. Mehr. Über dem Land lagen Herbstfarben; bestimmt waren dies die letzten schönen Tage.
Auf einmal konnte es Charlotte kaum noch erwarten. Sie presste die Stirn gegen das Plastik des Fensters, und obwohl sie wusste, dass es unsinnig war, versuchte sie, Somerville und das Haus auszumachen, in dem sie gelebt hatte. Ihre chaotische kleine Studentenwohnung! Wer jetzt wohl darin wohnte? Ob er oder sie die Pflanzen auf dem Balkon durchgekriegt hatte? Ob der Hibiskus noch lebte? Sie hätte es gerne gewusst.
Seit ihrer Flucht – ja, es war eine Flucht gewesen: vor James und seinen Nachstellungen, vor all den Erinnerungen, und weil ihr das Studium plötzlich sinnlos vorgekommen war – lebte sie in Paris, in der mit verstaubten Möbeln vollgestopften Wohnung ihrer Eltern. Lauter Erbstücke natürlich, Familiengeschichte ausdünstend. Das erdrückte sie, aber es wäre Unsinn gewesen, sich eine eigene Wohnung zu nehmen. Nicht bei den Pariser Immobilienpreisen.
Sie warteten beide auf sie, eine Brenda, die vor Glück strahlte, und ein behaglich schmunzelnder Thomas. »Und der Kleine?«, fragte Charlotte verwundert, während sie sich von Brenda drücken ließ.
»Meine Mutter kümmert sich um ihn. Sie hat Zauberkräfte; bei ihr schreit er viel weniger als bei mir!«
Brenda sah gut aus. Aufgeblüht. Sie hatte irgendetwas mitihren Haaren gemacht, das sie richtig erwachsen wirken ließ, und auch die Zeit der knallbunten Schlabberklamotten schien vorüber zu sein.
Thomas umarmte sie, scheu und ungelenk wie eh und je. Er hatte zugelegt. Nicht, dass er dick geworden wäre – abgerundet traf es eher. Brendas gute Küche vermutlich. Und er bekam erste graue Haare, was ihn zusammen mit seiner sich unaufhaltsam vergrößernden Stirnglatze älter wirken ließ, als er war.
»Danke für die Einladung«, sagte Charlotte.
»Du warst unsere Trauzeugin«, meinte er lächelnd. »Da wird man wohl verlangen können, dass du dir anschaust, was dabei herausgekommen ist.«
Sie wohnten immer noch in Brendas blauem Holzhaus, von dem aus man an manchen Tagen den Atlantik riechen konnte. Das Grundstück zu betreten war, als sei sie erst gestern aus Boston fortgegangen. Halt, nein – der Garten hatte sich verändert. Die Bäume waren gewachsen, alles war gepflegter, als sie es in Erinnerung hatte. Es war ein kleines Paradies. Ein Paradies, in dem nun bald helles Kinderlachen zu hören sein würde …
Unwillkürlich legte Charlotte die Hand auf ihren Bauch. Kinder. Bis jetzt war sie der Frage, ob sie selbst welche wollte, ausgewichen. Später, hatte sie sich immer gesagt. Inzwischen mehrten sich die Momente, in denen sie das Gerede von der tickenden biologischen Uhr nachvollziehen konnte, das sie früher nur genervt hatte.
Aber sie konnte es sich immer noch nicht vorstellen. Schwanger zu werden, das war für sie immer noch vor allem eine Angst. Schwanger zu werden bedeutete das Ende der Freiheit, so empfand sie es. Für ihre Mutter war es so gewesen.
Mrs Gilliam öffnete ihnen die Haustür, ein seliges Großmutterlächeln auf dem Gesicht. »Er schläft!«, flüsterte sie, als genüge ein lautes Wort, etwas daran zu ändern.
Brenda packte Charlotte am Arm und zog sie mit sich nach hinten in das helle, luftige Kinderzimmer, das am Anfang ihr eigenes Schlafzimmer gewesen war. Das Baby lag in einer entzückendenWiege und sah aus wie ein Engel. Charlotte beugte sich darüber, um es angemessen zu bewundern. Herzerweichend, wie der Kleine die winzigen Lippen spitzte, wie seine kleinen Fäuste sich unruhig bewegten und wie er schnaufte, als träume er schon aufregende Dinge.
Charlotte sah hoch. »Und wieso Jason? «
»Das musste so sein«, erklärte Brenda. »Wir haben wochenlang über Vornamenbüchern gebrütet, Listen gemacht, was weiß ich – und dann hatten wir beide am selben Tag dieselbe Idee! Wenn das nicht Schicksal ist, was dann?«
Schicksal. Es gab Charlotte immer einen Stich, dieses Wort zu hören. »Und wenn’s ein Mädchen geworden wäre?«
»Das hätte Streit gegeben.« Brenda gab ein entrüstetes Schnauben von sich. »Weißt du, was Tom allen Ernstes vorgeschlagen hat? Olivia! Also, ich bitte dich!«
»Olivia Wickersham?« Charlotte schmeckte dem Namen nach. »Wieso? Find ich nicht so schlecht.«
Das brachte ihr einen Boxhieb gegen den
Weitere Kostenlose Bücher