Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Kunststoffstäben, die man nur dann schemenhaft erkannte, wenn die Sonne direkt darauf fiel.
Also hatte sie das alles doch nicht geträumt. Sie war tatsächlich um die halbe Welt geflogen, um sich auf einer einsamen Insel mitten im Pazifik anzusehen, was Hiroshi sich ausgedacht hatte.
Wie kam sie dazu? Sie wälzte sich herum, stemmte sich von der Liege hoch, die erstaunlich bequem war. Allerdings hatte das auch nicht verhindert, dass sie sich noch wie gerädert fühlte. Was hatte sie überhaupt aufgeweckt? Sie wusste es nicht. Irgendein Geräusch. Stimmen. Irgendwo in der Ferne, jenseits der Zeltwände waren Stimmen zu hören, aufgeregte Stimmen und Gelächter.
Okay. Sie amüsierten sich also prächtig hier. Umso besser. Aber die Frage, was sie hier verloren hatte, klärte das immer noch nicht.
Roboter, die andere Roboter bauten. Also wirklich. Das hätte er ihr doch auch einfach mal in einem Brief schreiben können. Stichwort ›lustige Anekdoten aus Kindertagen‹.
Jeder andere hätte das wahrscheinlich auch gemacht. Jeder außer Hiroshi.
Sie war nur hier, weil sie Distanz zu Gary gebraucht hatte. Das war es. Mal Luft schnappen. Der Pazifik wäre dazu gar nicht nötig gewesen, aber natürlich war die Luft hier hervorragend.
Obwohl … Sie schnupperte. Da war er wieder, dieser seltsame Geruch nach Verwesung, Moder, Müllplatz, von dem ab und zu eine Schwade vorbeizog. Hatte sich was mit guter Luft. Sie hätte vielleicht einfach in die Highlands fahren und sich dort in irgendeinem kleinen Hotel verkriechen sollen.
Sie wollte gar nicht wissen, was Hiroshi ausgebrütet hatte. Auf eine seltsame Weise hatte sie Angst davor, mehr zu erfahren. Komisch, wenn man es recht überlegte, aber es war so.
Charlotte stand vollends auf, sah sich um. Ihre Koffer, aufgeklappt, alles da. Ein ausfaltbarer Waschtisch, schlau gemacht. Und hatte Hiroshi nicht irgendwas von einer Dusche gesagt, die es geben sollte? Sie hüllte sich in ihren dünnen Bademantel, schnappte ihren Waschbeutel, schlüpfte in die Sandalen und streckte den Kopf aus dem Zelt.
Heller Tag. Emsiges Murmeln weiter vorne, in einem der großen Zelte, die verdächtig nach Arbeit und Forschung aussahen, dahinter Palmen … Und hinter den Palmen leuchtete etwas gelb, ein intensives, künstliches Gelb. Genau, das hatte sie gestern vom Hubschrauber aus gesehen. Da war irgendetwas. Vermutlich ein Teil der Versuchsanordnung. Oder noch ein Zelt. Egal – sie würde es ohne Zweifel erfahren.
Die Dusche war in einem Zelt gleich nebenan, unübersehbar dank eines entsprechenden Aufdrucks. Danach ging es ihr besser, und als sie bei der Rückkehr in ihr Zelt dort einen Föhn vorfand, der sogar funktionierte, stieg ihre Laune endgültig in den grünen Bereich. Sie würde das alles einfach als einen etwas ausgefallenen Kurzurlaub betrachten. Vielleicht fand sich ja eine Gelegenheit, mit Hiroshi ein paar Takte über die Vergangenheit zu plaudern. Ihre Kindheit zum Beispiel. Oder, wenn sie ganz mutig waren, darüber, was damals in Harvard zwischen ihnen gewesen war.
Als sie zum zweiten Mal an die mehr oder minder frische Luft trat, diesmal frisch geföhnt und frisch gekleidet, tauchte eine junge Frau auf, eine Asiatin mit hennarot gefärbtem Haar, die ihr winkte. »Frühstück!«, rief sie mit einem Akzent, der auf wenig weitergehende Englischkenntnisse schließen ließ.
So fand sich Charlotte gleich darauf im Speisezelt wieder, das hell, luftig und groß war, mit sieben Tischen und insgesamt über vierzig Sitzplätzen. Auf der dem Strand zugewandten Seite waren die Planen beiseitegeschlagen, sodass man einen grandiosenBlick auf den Pazifik genoss. »Die anderen schon fertig gegessen und arbeiten«, erklärte die Frau, als sie Charlotte einen Kaffee hinstellte, einen Korb mit Obst und einen Teller mit zwei Croissants, wie man sie in Paris auch nicht besser bekommen hätte.
Gleich darauf tauchte Hiroshi auf; offenbar hatte ihm das Mädchen Bescheid gesagt. »Na?«, fragte er. »Gut geschlafen?«
»Ich verlier allmählich das Gefühl, alles nur zu träumen«, bekannte Charlotte.
Er setzte sich ihr gegenüber. »Ich entwickle es gerade. Ich kann es kaum glauben, dass du wirklich gekommen bist.«
Mit anderen Worten, er war immer noch verliebt in sie. Sie sah auf ihren Kaffee hinab. Was war es nur, das sie beide verband? Im Moment hatte sie das Gefühl, dass sie es nie verstehen würde. So wenig, wie sie Hiroshi je verstehen würde. Keine Sprache der Welt eignete sich dafür,
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