Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
sein musste. Zum Beispiel dadurch, dass ein Projektil auf der einen Seite mit hoher Geschwindigkeit eingetreten war, seine kinetische Energie im Gehirn zerstörerisch entfaltet hatte und mitsamt einer Menge Hirnmasse auf der anderen Seite wieder ausgetreten war. Ein Kopfschuss, mit anderen Worten.
Unmöglich, so etwas in einem seriösen wissenschaftlichen Magazin veröffentlicht zu bekommen.
Und das war nur eines von mehreren Dutzend Fundstücken, deren Deutung sie im Lauf der vergangenen Jahre in Zweifel gezogen hatte. Natürlich hatte sie sich dabei auch ihrer besonderenGabe bedient, aber die lieferte ihr keine Beweise, bestenfalls Anhaltspunkte, in welche Richtung ihre Ermittlungen gehen mussten. Doch egal, was sie herausfand, egal, wie sie argumentierte, sie bekam in der akademischen Welt keinen Fuß auf den Boden.
So war sie schließlich hier gelandet. Hier genügte die biografische Kurznotiz »Charlotte Malroux, Studium der Paläoanthropologie in Harvard« als Befähigungsnachweis.
Vor einer Plakatwand, an der das Programm des Tages angeschlagen war, blieb sie stehen. Vielleicht war es das Beste, sie besuchte einfach irgendeinen anderen Vortrag. Das würde sie beschäftigt halten, bis es Zeit für ihren eigenen war.
Hier. Der Vortrag von Professor Diego Fernando Andrade aus Ecuador. Am ersten Abend des Kongresses, auf dem Empfang für die Referenten, hatte Charlotte ein wenig mit ihm geplaudert. Professor Andrade war ein betulicher, zurückhaltender älterer Herr, der an der Päpstlichen Katholischen Universität von Quito lehrte und sichtlich befremdet von dem Trubel war, der hier veranstaltet wurde. Er sei dergleichen nicht gewohnt, hatte er ihr erzählt und auch, wovon sein Vortrag handelte. Es ging um eine Reihe präkolumbianischer Artefakte, die im Museum von Quito aufbewahrt wurden und über die sich Historiker seit Jahren die Köpfe zerbrachen: seltsame kleine Gestalten aus Keramik, die alle aussahen, als trügen sie Raumanzüge. Der Witz war, dass diese Figuren mindestens zwölfhundert Jahre alt waren, also zu einer Zeit entstanden sein mussten, als noch niemand auf der Erde so etwas wie einen Raumanzug gesehen haben konnte. Einige der Skulpturen waren auf dem offiziellen Kongressprospekt abgedruckt und sahen wahrhaftig aus, als seien sie nach Motiven aus neuzeitlichen Science-Fiction-Filmen gestaltet.
Er hatte ihr erzählt, man vermute, dass diese Figuren auf volkstümliche Erzählungen zurückgingen, die wesentlich älter seien als die Figuren selber. Dass man seinen Vortrag groß ankündigte mit einem Text, der beim flüchtigen Lesen den Eindruckerwecken musste, er behaupte, dass die Menschheit in grauer Vorzeit nicht nur Besuch aus dem All gehabt habe, sondern sogar in kriegerische Konflikte mit galaktischen Mächten verwickelt gewesen sei, war ihm alles andere als recht. »Ich kann nur hoffen, dass niemand zu Hause diesen Prospekt zu Gesicht bekommt«, hatte er ihr bekümmert anvertraut. »Das würden meine Vorgesetzten gar nicht gut finden. Wir sind nämlich gehalten, nichts zu behaupten, was der katholischen Lehre widerspricht.«
Charlotte war sich immer noch unschlüssig, während sie die breite Treppe in die Haupthalle hinunterging. Was, wenn Professor Andrade sich als so hervorragender Redner entpuppte, dass sie Minderwertigkeitskomplexe bekam? Das war nicht auszuschließen; immerhin hatte der Mann eine Ausbildung zum Priester absolviert, und die Jesuiten waren bekannt dafür, dass sie reden konnten.
Vielleicht verkroch sie sich doch lieber einfach in der Cafeteria, hinter einem großen Latte macchiato. Oder gleich im Klo.
Vor der Tür zum Vortragssaal stand nun das Gipsmonstrum, das bisher den Eingangsbereich dekoriert hatte: die Nachbildung einer Stele aus Guatemala, die ein fremdartiges, Feuer speiendes Wesen zeigte, das ebenfalls einen Raumanzug zu tragen schien. Die ersten Hörer strömten schon in den Saal, sichtlich von Vorfreude erfüllt.
Charlotte musste stehen bleiben, tief durchatmen. Wollte sie sich das antun? Sie betrachtete die Tafel mit der Inschrift. El Baúl Stele, Nachbildung des Originals bei Santa Lucia Cozumal huapa, Guatemala, vermutlich in der Maya-Epoche entstanden.
»Und?«, fragte jemand neben ihr. »Was denkst du? Haben einst Feuer speiende Wesen Krieg gegen die Menschen geführt?«
Charlotte fuhr herum. »Hiroshi!«
Er war es. Stand da und redete sie an, als wären nicht sechs Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten!
»Hallo,
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